Rezension
Nach Carla Simons letztjährigen Gewinner des Goldenen Bären ALCARRAS – DIE LETZTE ERNTE steht erneut der spanische Film einer Regisseurin im Wettbewerb der Berlinale. Beide Filme verbindet nicht nur ihr Entstehungsland und ein auf den ersten Blick schleierhafter Titel, sondern auch die naturalistische Herangehensweise beider Regisseurinnen. Widmete sich ALCARRAS im vergangenen Jahr einer Familie mit klassischer Rollenverteilung, die mit den Veränderungen der Moderne konfrontiert wird, erzählt Estibaliz Urresola Solaguren in ihrem Film von einer Familie, welche die Identitätssuche des jüngsten Kindes bewegt. Ein berührendes und eindrucksvolles Spielfilmdebüt.
Feinfühlig folgt Urresola Solaguren in diesem der individuellen Entdeckungs- und Selbstbestimmungsreise der jungen Hauptfigur. Nicht nur die verschiedenen Namen, mit denen diese angesprochen wird, auch Umarmungen, die Kleidung und die Wahrnehmung innerhalb einer Gruppe erscheinen ihr von Grund auf falsch. Die Versuche, sich die Welt wider tradierter und festgefahrener Vorstellungen zu erklären, greift das Spielfilmdrama in ehrlichen, kindlichen Fragestellungen nach dem eigenen Sein, aber auch in den unaufgeregten, ungekünstelten Bildern von Gina Ferrer García auf. Die Kinderperspektive in Gesprächen mit dem Bruder, der Tante und Mutter verständnisvoll verarbeitend, entstehen sensible Beobachtungen von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen sowie den Einflüssen einer Welt, in der weiterhin „Jungenfrisuren“ und „Jungenkleidung“ bestehen und restriktive Interpretationen anderer Menschen über die eigene Entfaltung bestimmen.
Das Summen des Bienenstocks
So essentiell die inneren und äußeren Konflikte für einzelne Figuren auch sind, 20.000 SPECIES OF BEES verzichtet auf ein großangelegtes Drama, dramaturgische Überzeichnungen und darauf, den sensiblen Stoff für simple emotionale Entwicklungen auszunutzen. Spürbar fließt die Erfahrung von Eltern transgeschlechtlicher Kinder in die Handlung ein, wenn sich die Suche nach dem eigenen Sein in vermeintlich kleinen, alltäglichen Situation äußert. Wandelbar verkörpert Sofía Otero ihre Rolle zwischen neugierigen Beobachtungen und Antastungen, tiefer Verletzlichkeit sowie reifen und selbstbewussten Gedankengängen bis hin zur Konfrontation.
Der zweiten Handlungsstrang der gezeigten familiären Dichotomie begleitet die Mutter der kleinen Familie, die sich im Haus ihrer Verwandten der Rekonstruktion alter Kunstwerke und der Verwirklichung eines langgehegten Traums zuwendet. Den Fokus des Films verzerrend, liefert die Nebenhandlung zwar eine weitere, sogar mehrere Perspektiven auf die Geschehnisse, lenkt mitunter jedoch von Wirkung und dem gehaltvollen Blickwinkel der Haupthandlung ab. Erfährt die Historie der Familie und deren Bezug zum Werdegang der Mutter nur oberflächliche, unebene Einbindung, verdichten zumindest die verschiedensten Dialoge der Familienmitglieder, seien sie mit oder über Lucía, die Beziehungen untereinander. Es entstehen Gespräche, die nachhallen, die persönliche Grenzen aufzeigen und die aufgewühlten Gefühlszustände mit Worten zu erfassen versuchen. Müheloser symbolisieren können diese die Bienen, wenngleich sie nur in der Dämmerung summen.
Fazit
Insbesondere in der Beziehung zu einzelnen Familienmitgliedern entstehen in 20.000 SPECIES OF BEES kraftvolle und aussagekräftige Einzelmomente. Mit unaufdringlicher Symbolik, den nahbaren, ungekünstelten Aufnahmen und der schauspielerisch treffsicheren Ensembleleistung ein ebenso leises wie wirkungsvolles Gesamtwerk.
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Originaltitel | 20.000 especies de abejas |
Kinostart | 21.4.2023 |
Länge: | 129 minuten |
Produktionsland | Spain |
Genre: | Drama |
Regie | Estibaliz Urresola Solaguren |
Producer | Lara Izagirre | Valérie Delpierre |
Kamera | Gina Ferrer |
Cast | Sofía Otero, Patricia López Arnaiz, Ane Gabarain, Itziar Lazkano, Sara Cózar, Martxelo Rubio, Miguel Garcés |
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