FilmkritikFakten + Credits

Ein stillgelegtes Auto auf offener Wiese, rotweiße Decken hängen vom Dach, durch die offenen Fenster tönen laute aufgeregte Rufe. Innerhalb des kleinen blauen Wagens haben sich drei Kinder eine eigene Welt geschaffen. Ihr Mikrokosmos soll der erste sein, welcher von den herannahenden Baufahrzeugen beschnitten wird, nach und nach wird es auch jene der anderen Mitglieder der Familie treffen. Fünf Jahre nach ihrem vielfach gelobten autobiografischen Spielfilmdebüt FRIDAS SOMMER widmet sich Carla Simón erneut dem Landleben im tiefsten Süden Kataloniens, der Geschichte einer Familie, welche vor großen Veränderungen steht und gewinnt mit ihrem Film ALCARRÀS den Goldenen Bären der diesjährigen Filmfestspiele in Berlin.

Darum geht es…

Seit vielen Jahrzehnten bewirtschaftet Familie Solé eine Pfirsichplantage in Alcarràs. Jeden Sommer ist Erntezeit, zu der die Familie zusammenkommt und sich gegenseitig unterstützt. In diesem Jahr wird das Zusammentreffen jedoch von schlechten Neuigkeiten überschattet: der Familie droht die Zwangsräumung, die ertragreichen Pfirsichbäume sollen durch Solarpaneele ersetzt werden. Plötzlich stehen die Solés vor eine ungewissen Zukunft. Während sich einige Familienmitglieder der Entwicklung beugen wollen, sind andere bereit zu demonstrieren. Wieder andere haben indes mit ganz persönlichen Problemen zu kämpfen und suchen innerhalb sich neu ordnenden Familiendynamiken nach Anerkennung …

Rezension

In unaufdringlicher Erzählweise und mit größtmöglichen einprägsamen Naturalismus erforscht die spanische Regisseurin die Figuren und deren engsten Gedanken und Sorgen. ALCARRÀS ist ein faszinierendes Ensemblestück, in welchem jeder Charakter seine eigene Form und Tiefe ausgestalten und damit wohltuende wie unerfreuliche Facetten von sich zeigen kann. Auf bemerkenswerter Augenhöhe folgt der Film dem Alltag der Figuren, setzt sich mit den Familienmitglieder, den jüngsten wie den ältesten, respektvoll auseinander und sieht davon ab, Haltungen zu missbilligen. Viel eher erfreut er sich an den familiären Kollisionen, welche Simón empfindsam und mit Neigung zur dokumentarischen Beobachtung einfängt.

Alcarràs

Alcarràs ©LluisTudela

Der Sommer der Familie Solé

Da ist etwa der Familienvater Quimet (Jordi Pujol Dolcet), der mit aller Kraft und Berufsbereitschaft an seiner Pfirsichplantage hängt, der junge Mann Roger (Albert Bosch), der sich aufopferungsvoll für die Bewirtschaftung und Ernte einsetzt, dafür jedoch selten Bestätigung erhält, dessen Schwester Mariona (Xènia Roset), die für einen Tanzauftritt probt und wie ihr stiller Großvater die Streitereien innerhalb der Familie mit äußerster Sorge beobachtet oder das Mädchen Iris (Ainet Jounou), welche die meiste Zeit in der sonnenbeschienen Umgebung des Wohnsitzes spielt. Jede Figur, zumeist von Laiendarsteller*innen aus der Umgebung gespielt, agiert unter dem Einfluss ihrer eigenen Welt und deren untrennbaren Werten nachvollziehbar und authentisch. Simón gelingt ein Mosaik aus verschiedenen Sichtweisen, ohne dass sich ihr Film nach einem solchen weder sprunghaft noch zusammengeflickt anfühlt. Jeder Strang entwickelt sich aus natürlichen Gesprächen heraus, erhält Aufmerksamkeit, wenn die Notwendigkeit besteht und fügt sich in das Gesamtkonstrukt der Familie ein.

Abseits dieser Auseinandersetzung mit verschiedenen Generationen und der Auf- und Abwägungen familiärer Traditionen reflektiert ALCARRÀS die Bedeutung der Landwirtschaft in der heutigen Zeit, liefert Bilder von Demonstrationen mit Traktoren, die auch in Deutschland schon Teil der Nachrichten gewesen waren. Ebenso wenig wie der Film vollumfängliche Charakterstudien schafft, widmet er sich dem vollständigen Diskurs der modernen Landwirtschaft, sondern bindet die Debatte als Teilidentität des Familienlebens und stellvertretend für das vieler anderer ungezeigter landwirtschaftlich tätigen Familien ein.

Diesen vor allem gegen Ende aufwühlenden Sequenzen stehen eine Vielzahl an familiären Begegnungen gegenüber, die in ihren leichtfüßigsten Momenten vor ungezwungener Lebensfreude sprühen. Ohne zu verklären oder zu dick aufzutragen, wohl aber mit eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit in einem Dorf Kataloniens gespickt, zeigt Carla Simón neben den sich anbahnenden Herausforderungen Szenen voller Unbeschwertheit: zu jenen gemeinsamen Familienfeiern und Poolrangeleien wachsen die Laiendarsteller*innen unumkehrbar zu einer echten Familie zusammen.

Bewertung Michel RieckFazit

Carla Simóns zweiter Spielfilm ist ein beeindruckendes Porträt einer Familie, welche vor großen Veränderungen steht. ALCARRÀS erzählt unaufdringlich und geerdet von herannahendem Wandel und dessen Auswirkungen auf die einzelnen Persönlichkeiten, stets nah an seinen Figuren und mit großen Gespür für deren emotionale Dynamiken. Äußerst lebhaft, kraftvoll und in großen Bildern erzählt, ist die Weltpremiere des spanisch-italienischen Wettbewerbsbeitrag sicherlich ein Highlight der diesjährigen Berlinale.

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Originaltitel Alcarràs
Berlinale – Release 15.02.2022
Berlinale – Sektion Wettbewerb
Kinostart 11.08.2022
Länge ca. 120 Minuten
Produktionsland Spanien | Italien
Genre Drama
Verleih unbekannt
FSK unbekannt

Regie Carla Simón
Drehbuch Carla Simón | Arnau Vilaró
Produzierende Ariadna Dot | Tono Folguera | Emilia Fort | Sergi Moreno | Giovanni Pompili | Stefan Schmitz | Elisa Sirvent | Carla Sospedra | Alfonso Villanueva Garcia | Maria Zamora
Musik Andrea Koch
Kamera Daniela Cajías
Schnitt Ana Pfaff

Besetzung Rolle
Jordi Pujol Dolcet Qumet
Anna Otin Dolors
Xènia Roset Mariona
Albert Bosch Roger
Ainet Jounou Iris
Josep Abad Rogelio
Montse Oró Nati
Carles Cabós Cisco
Berta Pipó Glòria
Isaac Rovira
Joel Rovira

 

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