In mitunter bis auf den letzten Platz besetzten Kino- und Theatersälen feierte die 73. Berlinale einen großen Schritt hin zum Normalbetrieb. Von der Pandemie, die die vergangenen Jahre der Filmfestspiele maßgeblich mitbestimmte, war in den diesjährigen elf Festivaltagen nur noch wenig zu spüren. Dafür füllten sich die Vorführungssäle sowie der European Film Market und internationale Gäst*innen machten erneut in größerer Anzahl die Runde. Zwischen politischen Statements, Glamour und Hollywood-Stars auf dem roten Teppich: rund 400 Filme, die auch in diesem Jahr in über einem Dutzend verschiedenen Sektionen um diverse Auszeichnungen und die Gunst des Publikums, professioneller Filmschaffender und Presse spielten.
Zurück zur Normalität?
2023 wieder möglich: direktes Feedback und direkter Austausch, der allen voran einige öffentliche Filmvorführungen in Anwesenheit von Crew und Cast unterfütterte. Unter viele persönliche und groteske Filmbeiträge mischten sich politische wie aktuelle Anliegen, welche mit der Jährung des russischen Angriffskrieges und den Protesten im Iran gleich zwei Schwerpunkte in Film, Podiumsdiskussionen und Solidaritätsdemonstrationen fanden. Einer der markantesten Festivaleinträge: die Weltpremiere Sean Penns und Aaron Kaufmans teilweise während der ersten Kriegstage in der Ukraine entstandene Dokumentation SUPERPOWER. Aufbereitet als konventionelles, selbstzentriertes Doku-/Thrillerkino zeigt der Film jedoch weder neue Einblicke noch gründliche Analysen.
Der Situation im Iran widmeten sich unter anderem der Animationsfilm LA SIRENE und die deutsch-französische Koproduktion SIEBEN WINTER IN TEHERAN. Letztere erhielt sowohl den Friedensfilmpreis als auch den Kompass-Perspektive-Preis der Perspektive Deutschen Kinos. Noch deutlicher als in Jahren zuvor durchzogen die facettenreichen Geschichten transgeschlechtlicher Personen die verschiedensten Sektionen bishin zum Wettbewerb. In Panorama Dokumente porträtierte D. Smith in seinem monochromen Debütfilm trans* Sexarbeiterinnen in New York und Georgia, in Generation 14plus folgte Vuk Lungulov-Klotz in MUTT wenigen Stunden aus dem Leben und Herausforderungen seines Hauptakteurs Feña und im Wettbewerb erhielt Sofía Otero für ihre Darstellung eines Kindes auf Identitätssuche überraschend die höchste Schauspielauszeichnung bei der Preisverleihung des Festivals.
Deutsches Kino gewinnt Silber
Üppig bedacht wurden bei dieser auch viele der deutschen Beiträge, wenngleich sie nur selten herausstachen. Ein Feuer konnte Christian Petzolds ROTER HIMMEL zwar auf der Leinwand entzünden, nur ein paar Funken hingegen bei der leichtfüßig inszenierten, gegen Ende Tragik forcierenden Geschichte und den mitunter seichten Charakterisierungen von Figuren, deren geplanter Sommer-/Arbeitsaufenthalt an der Ostsee ungeahnte, allerdings wenig eindringliche Ausmaße annimmt. Eindringlich genug für die von Kristen Stewart geleitete Jury, die den Film mit dem Großen Preis der Jury bedachte. Weitere Bären verteilten sich an Thea Ehre, die als Nebendarstellerin in Christoph Hochhäuslers BIS ANS ENDE DER NACHT ausgezeichnet wurde und an das Drehbuch von Angela Schanelecs die Ödipus-Sage modern und geziert verarbeitenden, mühseligen MUSIC.
Keine Auszeichnungen nahmen die weiteren Wettbewerbsbeiträge deutscher Frauen entgegen. Sowohl der im April in den Kinos anlaufende IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN als auch Margarethe von Trottas INGEBORG BACHMANN – REISE DURCH DIE WÜSTE blieben unprämiert. Beide Filme porträtieren fragwürdige Beziehungen, einer drastisch, der andere sprunghaft. Statt eine Geschichte der Nachwendezeit, die ihr Potential am Rande einzelner Dialoge durchdringen lässt, zentriert Emily Atef in ihrer Romanverfilmung IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN die selten romantische und kaum kritisch aufgearbeitete Beziehung von Maria und des in der Nachbarschaft lebenden Henner. Merkwürdig nah liegen das sommerliche Postkarten-Kolorit und das durch Umschwünge gezeichnete Ende der DDR sowie eine romantische Liebesbeziehung und harte, missbräuchliche Beziehungseinblicke. Der bleibende Eindruck ist bitter. Weniger unangenehm ist da das ausschnitthafte Porträt Ingeborg Bachmanns, deren vielfältiges und allen voran schöpferisches Leben jedoch nahezu komplett der Beziehung zum schweizerischen Schriftsteller Max Frisch weicht. Gute Darsteller*innen und spannende Aufnahmen verlieren in einer munter zwischen verschiedenen Zeitebenen springenden, Romanze fokussierenden und Klischees aufgreifenden Geschichte an Wirkungskraft.
Anime auf der großen Bühne
Ein Märchen um ein Erdbeben-Trauma und der Besuch auf einem chinesischen Kunst-College markierten nicht nur thematisch, sondern vor allem formelle Abwechslung in Form des Animationsfilms. Dennoch könnten beide Wettbewerbsbeiträge in ihrer Art und Weise kaum unterschiedlicher sein. Nach Filmen wie YOUR NAME und WEATHERING WITH YOU zählte Makoto Shinkais SUZUME gewiss zu den meist erwartetsten Werken des Festivals, wohingegen der bereits mit HAVE A NICE DAY zur Berlinale eingeladene Liu Jian in seinem ART COLLEGE 1994 nur wenig Zugangsmöglichkeiten für ein breites Publikum bot. Punktet Shinkais neuster Film mit einer individuell-emotionale und historisch-traumatische Ereignisse verknüpfenden Geschichte, liefert Jians dritter Langfilm ein dichtes, detailliertes, aber auch sehr entschleunigtes Zeitbild ab.
Zwischen toxischen Familienzusammenkünften (MAL VIVER), Maskulinitäts-Überschüssen (MANODROME, DISCO BOY) und einer emotional distanzierten Aufstiegsgeschichte in BLACKBERRY zeigten allen voran Filme wie PAST LIVES, THE SHADOWLESS TOWER und 20.000 SPECIES OF BEES ihre Wirksamkeit in zurückhaltend erzählten, ehrlichen und leise optimistischen Geschichten. Dass nur wenige dieser Festivalfilme ein so großes Publikum wie der auf der Berlinale Deutschlandpremiere feiernde THE FABLEMANS des mit dem Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichneten Steven Spielbergs erreichen werden, ist im letztlich soliden, aber selten herausstechenden und zeitweilig durchwachsenen Wettbewerbs-Jahrgang zugleich Fluch und Segen.
Hinterlasse einen Kommentar