Rezension
Es ist Nacht in der Stadt der Illusionen. Züge rauschen in die Dunkelheit, Fahrgäste lehnen müde in ihren Sitzen, Poesie schleicht durch die finsteren Häuserschluchten Mumbais. Dazwischen: Das Licht von Straßenlaternen, Neonröhren und Kinoprojektoren. Und drei befreundete Frauen, Prabha, Anu und Parvaty, die in Payal Kapadias bemerkenswerten Erstlingswerk um ein unabhängiges Leben, um Kontrolle und um die Liebe ringen. ALL WE IMAGINE AS LIGHT verleiht nicht nur dem Titel, sondern auch seinen Figuren und seiner Erzählung eine eingehende, niemals aus der Ruhe zu bringende Strahlkraft.
Prabha (Kani Kusruti) arbeitet als Krankenschwester und lebt entfremdet von ihrem Mann, der sie kurz nach der Hochzeit nach Deutschland verlassen hat, ihre jüngere Kollegin und Mitbewohnerin Anu (Divya Prabha) führt eine heimliche Beziehung zu einem muslimischen Mann (Hridu Haroon) und Parvaty (Chhaya Kadam), eine Köchin des Krankenhauses, wird mit dem Vorhaben eines Bauunternehmers konfrontiert, der ihre bisherige Bleibe abzureißen droht. Sie alle verbindet eine leise, unbedingte Solidarität und ihr Leben in der indischen Millionenmetropole.
Verbündete der Nacht
Nachtwandlerisch entfaltet sich Payal Kapadias Film über das Leben der drei Frauen zu einer eindringlichen Erzählung über Sehnsüchte, persönliche Lebenseinstellungen und Emanzipation. Zu einem ineinander verwobenen und entschleunigt ausgearbeiteten, feinsinnig geschauspielerten Triptychon, das nur wenige Erklärungen zu den Hintergründen seiner Figuren, dafür immer wieder ausdrucksstarke Blicke und Gesichtsausdrücke sucht, um sie als vielschichtige Protagonistinnen zu begreifen. Deren weitere Facetten entfalten sich in aufrichtigen Dialogen und auch in den poetischen Zwischenspielen, die die Straßen Mumbais und den Film als Ganzes durchdringen.
Mumbai erwacht in diesem vor allem in den Abend- und nächtlichen Stunden zu einprägsamen Leben, poetisch verdichtet durch das unaufdringliche Voice-Over der Protagonist*innen und anderer Einwohner*innen. Eindrucksvoll charakterisiert Payal Kapadia mit wenigen Kniffen das Leben ihrer Figuren in der Großstadt zwischen späten U-Bahnfahrten und Küssen im Regen, zwischen der Einsamkeit im dunklen Appartement und der Verlorenheit in Menschenmengen, der Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen und der Machtlosigkeit gegenüber kapitalistischen Mechanismen, zwischen dem Dahintreiben im schnelllebigen Räderwerk der Stadt und dem Wunsch diesem und all seiner Eigenheiten zu entfliehen.
Bis zum Schwebezustand
Eine eindringliche Geräuschkulisse und magisch-realistische Akzente sind dabei kraftvolle Komplizen des überaus ruhigen, aber nie stockenden Handlungsaufbaus. Ehe dieser den Figuren aus dem Dunstkreis der Großstadt hinaus zu einem nachdrücklichen Schlussakt folgt, offenbaren sich deren komplexen Lebensrealitäten. Ein dichtes Spannungsfeld aus persönlichen Bedürfnissen und Versuchungen, aus finanzieller und patriarchaler Abhängigkeit, aus Emotionen der Vergangenheit und Erwartungen an die Zukunft. Eine feinsinnige Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Unabhängigkeitskämpfen, Träumen, Macht- und Ohnmachtsverhältnissen und nicht zuletzt mit einem Leben zwischen Traditionen, Klassenkampf und der globalisierten und vernetzten Moderne.
Textnachrichten fügen sich visuell ähnlich organisch in die unaufgeregten Aufnahmen ein wie die unterschwellige, sich nach Verwirklichung sehnende Magie des letzten Drittels in die ansonsten geerdet erzählte Handlung. Und das vor allem Dank der stringent eingehenden Bilder, denen sowohl eine raue wie zugleich besänftigende Natürlichkeit und Schönheit zu Grunde liegt. Ohne die Settings schmuckvoll oder kitschig zu verzerren, fängt Ranabir Das besänftigende und hypnotische Bilder ein; verleiht auch intimen und innigen Aufeinandertreffen ein ungekünsteltes Gewicht. Spätestens wenn sich die Bilder, die verspielte Musik und die dichten Emotionen der Hauptfiguren im letzten Drittel untrennbar verknüpfen, löst sich ALL WE IMAGINE AS LIGHT von Ort und Zeit und der Film die letzten Ketten seiner visuell und emotional betörenden Kraft.
Fazit
Zwischen den lyrischen Nachtaufnahmen und den Selbstverwirklichungsversuchen seiner Hauptfiguren leuchtet die Hoffnung in Payal Kapadias eindringlich gespieltem und herausragend fotografiertem Spielfilmdebüt. Einem von einprägsamer, menschlicher Größe.
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Originaltitel | പ്രഭയായ് നിനച്ചതെല്ലാം |
Kinostart | 21.9.2024 |
Länge: | 114 minuten |
Produktionsland | France |
Genre: | Drama |
Regie | Payal Kapadia |
Executive Producer | Harshit Agrawal |
Producer | Thomas Hakim | Olivier Père | Frank Hoeve | Julien Graff | Gilles Chanial | Zico Maitra | Roberto Minervini | Ranabir Das | Denise Ping Lee | Govinda Van Maele |
Kamera | Ranabir Das |
Musik | Dhritiman Das |
Cast | Kani Kusruti, Divya Prabha, Chhaya Kadam, Hridhu Haroon, Azees Nedumangad, Tintumol Joseph, Anand Sami, Lovleen Mishra, Madhu Raja, Shweta Prajapati, Ardra K.S., Sisira Anil CK, Aparna Ram, Kashish Singh, Nikhil Mathew, Bipin Nadkarni, Snehalata Siddharth Tagde, Saee Abhay Limaye, Sanjay Balu Ghanekar, Shailaja Shrikant |
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