Review Fakten + Credits


Rezension

Die kaputte Schulklingel schrillt ununterbrochen wie bei einem brenzligen Alarm, das Klackern der Stöckelschuhe klingt wie das Ticken von Uhrzeigern und das konstante Nasenbluten der Krankenschwester in heiklen Situationen nimmt selbst sie nicht richtig ernst. Bereits in den ersten fünf Minuten kann selbst der unaufmerksamste Zuschauer erkennen, dass ARMAND keineswegs ein simples Drama über Kindeserziehung ist. Stattdessen entpuppt sich das Spielfilmdebüt des Norwegers Halfdan Ullmann Tøndel als vielschichtige Observation über gesellschaftliche Erwartungen an Eltern, gespickt mit einer Reihe an Symbolik und sogar einigen surrealen Tanzeinlagen. Tøndel ist der Enkel der Filmlegenden Liv Ullmann und Ingmar Bergman. Sein Talent wurde ihm also in die Wiege gelegt, mag einer sagen. Größtenteils kommt dieses bereits bei seinem Langfilmdebüt zum Vorschein, das bei den Filmfestspielen in Cannes 2024 mit der Caméra d’Or als bester Debütfilm ausgezeichnet wurde.

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Schauspielerin Elisabeth wird eines Nachmittags von Sunna, der Lehrerin ihres sechsjährigen Sohnes Armand, in die Grundschule zu einem Gespräch gebeten. Unwissen darüber, was eigentlich passiert ist, trifft sie dort auch auf die Eltern eines Schulkameraden von Armand, Jon. Sunna berichtet, dass Jon mit einer Verletzung im Gesicht von der Schulkrankenschwester aufgefunden wurde und Armand dafür verantwortlich macht. Schnell stehen jedoch noch andere Vorwürfe im Raum: Armand wird einer sexuellen Abweichung bezichtigt. Andere Lehrkräfte treten dem Gespräch bei und eine Reihe von Lügen, Intrigen und gemeinsamen Vergangenheiten wird aufgedeckt. Spätestens als die Aufrichtigkeit hinter Jons Aussage in Frage gestellt wird, weiß keiner mehr wirklich, was geschehen ist – und worum es den beteiligten Personen wirklich geht.

Von der ersten Sekunde an stechen die grobkörnige Bildgestaltung und das präzise Sounddesign hervor. Ersteres unterstützt den emotionalen Aspekt der Handlung gekonnt, während letzteres ARMAND fast schon den Hauch eines Thrillers verleiht. Im Zentrum des Geschehens folgen wir Elisabeth, die wie gewohnt brillant von Renate Reinsve (DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT) in zahlreichen Nahaufnahmen inszeniert wurde. Besonders eine Szene bleibt in Erinnerung: In dieser sprechen die Eltern, Schulleiter Jarle und Krankenschwester Ajsa über notwendige Maßnahmen, die sie in Absprache mit Armand treffen muss. Ihre Reaktion? Lachen. Lautes, herzhaftes, minutenlanges Lachen, das kaum mehr aufhören will. Nur nach und nach kommen Informationen über ihren Charakter (eine traumabelastete Schauspielerin, die ihre erfolgreichsten Tage hinter sich hat) zum Vorschein. So richtig schlau wird man aus ihr aber nicht, man kann aber erahnen, dass sie in der Elternschaft nicht den besten Ruf hat. Daher nimmt sie auch ihre großen Ohrringe ab und wischt sich den Lippenstift weg, ehe sie das Schulgebäude betritt.

Worum geht’s den Eltern überhaupt?

Auf der anderen Seite sind Jons Eltern, Sarah und Anders. Ungefähr in der Mitte des Films lernen wir, dass Elisabeth mit Sarahs Bruder Thomas zusammen war. Dieser starb vor einiger Zeit; beide Frauen sind über den Tod sichtlich noch nicht hinweg. Wie bei fast allen Ereignissen in ARMAND besteht auch über die Gründe hinter seinem Ableben Unklarheit. Von einem Suizid ist die Rede, doch gegen Ende wird deutlich, dass Sarah Elisabeth für den Tod ihres Bruders die Schuld gibt. Die Tatsache, dass die beiden bzw. die drei Eltern eine vorbelastete gemeinsame Vergangenheit haben, wirft neue Fragen auf. Wie sehr ist Jon, der nur seiner Mutter Sarah die vermeintlichen Ereignisse anvertraut hat, wirklich zu glauben? Erfindet Sarah einige Details neu, um es Elisabeth heimzuzahlen?

in einem leeren Klassenzimmer sitzt eine Frau in der ersten Reihe

Armand ©2025 Pandora Film | Eye Eye Pictures

Während derartige Fragen auch noch nach Filmende im Raum stehen, wird vor allem eins schnell klar: In ARMAND geht es kaum um Armand. Viel eher geht es darum, wie die anwesenden anderen Eltern auf Elisabeth und die eskalierende Situation zwischen den zwei Jungs und deren Eltern reagieren. Ironischerweise spiegelt sich diese thematische Verlagerung auch in der Auswahl des Filmtitels für die deutschen Kinos wider: Während er in Cannes als ARMAND aufgeführt wurde, verkündete man hierzulande im September 2024 eine Veröffentlichung unter dem Titel „Elternabend“, ehe er im Dezember erneut auf ARMAND umgetauft wurde und so in die Kinos kam.

Risiken, die sich (meist) auszahlen

Ab der Mitte des Films leistet sich Tøndel einen riskanten Schritt, indem er seinem Melodrama eine tonale Radikalwendung verpasst und man plötzlich surreale Traumsequenzen mit schrägen Tanzeinlagen präsentiert bekommt. Nicht alle davon landen, einige wirken fast schon gezwungen artistisch. Andere jedoch fassen zentrale Punkte des Films neu auf und präsentieren sie in einer metaphorischen Bildsprache, die den tatsächlichen Gefühlen des nachgestellten Phänomens erstaunlich ähnlich kommt. So sieht man unter anderem, wie Elisabeth von den anderen Eltern der Klasse regelrecht entblößt wird: Hände zerren an ihr, fassen ihr Gesicht und ihren Oberkörper an, reißen ihre Kleidung herunter. Was einem exorzistischen Ritual ähnlich aussieht, kann als Metapher für die Verurteilung und Offenlegung des Privatlebens ihrer Figur verstanden werden.

ein langer Gang in einem Schulgebäude, eine Frau rennt von der Kamera weg den Gang entlang

Armand ©2025 Pandora Film | Eye Eye Pictures

Fazit

Auch wenn der Film vielleicht nicht die Antworten auf alle gestellten Fragen liefert und man dadurch eine emotionale Tiefe vermisst, gestaltet sich ARMAND als ein Drama über das Schulsystem und Elternsein der anderen Art. Es bleibt abzuwarten, ob Halfdan Ullmann Tøndel ähnlich beeindruckende filmische Meisterleistungen wie seine Großeltern abliefern kann. Auf einem guten Weg dahin ist er allemal.

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Review Fakten + Credits


Originaltitel Armand
Kinostart 27.9.2024
Länge: 116 minuten
Produktionsland Germany
Genre: Drama | Thriller
Regie Halfdan Olav Ullmann Tøndel
Executive Producer Joachim Trier | Dyveke Bjørkly Graver | Harald Fagerheim Bugge | Renate Reinsve
Producer Derk-Jan Warrink | Andrea Berentsen Ottmar | Sol Bondy | Fred Burle | Koji Nelissen | Alicia Hansen | Stina Eriksson | Kristina Börjeson | Magnus Thomassen
Kamera Pål Ulvik Rokseth
Musik Ella van der Woude
Cast Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit, Thea Lambrechts Vaulen, Øystein Røger, Vera Veljović-Jovanović, Loke Nikolaisen, Assad Siddique, Patrice Demonière

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