FilmkritikDarsteller:innen und Rollen
Jetzt auf Amazon kaufen oder leihen
FSK 12

FSK 12 ©FSK

Originaltitel: L’Enfant sauvage
DVD/Bluray: 22.10.2021
Erstveröffentlichung: 1970
Länge: ca. 83 Minuten
Produktionsland: Frankreich
Regie: François Truffaut
Schauspieler:innen: Jean-Pierre Cargol | François Truffaut | Françoise Seigner
Genre: Drama | Historie
Verleih: Studio Hamburg

Der Wolfsjunge

Der Wolfsjunge ©2021 Studio Hamburg

Frühling des Jahres 1797. In einem Wald bei der französischen Gemeinde Saint-Sernin-sur-Rance beobachtet man Ungewöhnliches: einen Jungen, der sich völlig frei, allein und wild im Wald bewegte. Der Fall des Victor von Aveyron zählt zu jenen sogenannter Wolfskinder, die im jungen Alter isoliert von anderen Menschen aufwachsen und deren Verhalten sich grundlegend von sozialisierten Menschen unterscheidet. Von Berichten des Otologen und Taubstummenlehrers Jean Itard inspiriert, begann François Truffaut bereits 1964 an der Idee einer Verfilmung dieser sonderbaren Geschichte zu arbeiten.

Der Mitbegründer der Nouvelle Vague, eine der stilprägenden und weltweit einflussreichsten Epochen des französischen Films, inszenierte zuvor Dramen wie SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN und JULES UND JIM, die ihm bereits Anerkennung und seinen Filmen bis heute Klassikerstatus einbrachten. In seinem 1970 erschienen Film übernahm Truffaut nicht nur die Regie, sondern auch die Rolle des Dr. Jean Itard, den jungen, ungestümen Victor verkörperter Debütant Jean-Pierre Cargol.

Zur Veröffentlichung übertraf der Erfolg des Films die Erwartungen des Regisseurs. Nach hohen Besucherzahlen in Frankreich eroberte seine Verfilmung des Falls auch das Ausland: die New York Times widmete ihm ein Porträt und sein Ruf und Ansehen als vielversprechender europäischer Regisseur wuchs und festigte sich über Ländergrenzen hinweg. Sein alter Bekannter Alfred Hitchcock, mit dem er bereits Anfang der 1960er Jahre ein 50-stündiges Interview führte, welches heute in einem der Hauptwerke der Filmliteratur „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ festgeschrieben steht, schwärmte von seiner Sichtung des Films und bat Truffaut für dessen schauspielerische Leistung um ein Autogramm. Heute gilt DER WOLFSJUNGE als eines der Schlüsselwerke des französischen Ausnahmeregisseurs.

Darum geht es…

Ende des 18. Jahrhundert beschäftigt das Auffinden eines verwilderten und heimatlosen Jungen ein Dorf und die ansässige Ärztewelt. Nach einigen Fluchtversuchen wird der Junge nach Paris an das nationale Taubstummeninstitut gebracht, wo er in die Obhut des Arztes Dr. Itard und dessen Haushälterin Guerin gelangt. Itard beginnt, den Jungen nach eigenem Ermessen zu unterrichten und versucht, ihn zu sozialisieren, doch seine Anstrengungen und Bemühungen stoßen auf einen harten und beinah unbändigen Kern…

Aus datenschutzrechtlichen Gründen benötigt YouTube Ihre Einwilligung um geladen zu werden. Mehr Informationen finden Sie unter Datenschutzerklärung.

Rezension

Das in schwarzweiß gedrehte Filmdrama besticht in erster Linie durch seinen dokumentarfilmartigen Stil, einer nüchternen Erzählweise mit dem Verzicht auf rühr- und tränenselige Momente. Die Grundlage des Films ist unverkennbar. DER WOLFSJUNGE ist ein filmgewordener Bericht, woran das Voice Over Truffauts und die geschilderten Beobachtungen ständig erinnern, ohne ihre eigene Ästhetik zu verbergen. Truffaut selbst befürchtete vor Veröffentlichung des Films, er sei zu streng und nüchtern für ein breites Publikum, die Besucherzahlen sollten ihn vom Gegenteil überzeugen.

Der WolfsjungeJean-Pierre Cargol und François Truffaut tragen die Authentizität und die ruhige, gewissenhafte Dokumentation der Geschehnisse mit ihren Hauptrollen. Ersterer spielt, obwohl selbst ein ruhiges und zufriedenes Kind gewesen, beeindruckend auf, die wilde, ungestüme Seite ebenso wahrhaftig wie die Lernende oder seine Wutausbrüche. Truffaut steht der Performance beinah mit stoischer Ruhe gegenüber, als geduldiger, niemals nachlassender und gewissenhafter Arzt, dem unverhofft noch weitere Rollen auferlegt werden. Das Zusammenspiel ist greifbar und wirkt unverfälscht, als wäre der Bericht schon Jahrzehnte vor Erfindung des ersten Kinematographen aufgenommen worden.

Eine Studie in Schwarzweiß

Nicht nur beschäftigt sich Truffauts Filmstudie mit zum Teil autobiografischen und wiederkehrenden Kernthemen wie der Erziehung und der Bildung, vor dem Hintergrund studentischer Unruhen im Frankreich der 1970er und der Kritik am althergebrachten und machterhaltenden Erziehungssystem, fügt sich sein Werk außerdem in den damaligen Zeitgeist ein. Sein Film ist eine Auseinandersetzung mit Erziehung, Sozialisation und Moral, unentwegt Schwierigkeiten und Probleme aufzeigend. Eine endgültige Auflösung dieser Probleme gibt es nicht, viel mehr gesteht sich Itard selbst bis zum Ende eine Reihe an Misserfolgen ein, durchsetzt von kleinen Hoffnungsträgern durch das Erreichen von Etappenzielen. Nach etwas mehr als 80 Minuten verlässt der Film die Geschichte des Wolfsjungen, ohne den Anspruch zu verfolgen, Antworten bereitzuhalten, wohl aber mit der Intention, verschiedene Ansätze und philosophische Fragestellungen aufgegriffen zu haben.

Der Wolfsjunge

Der Wolfsjunge ©2021 Studio Hamburg

Dabei sorgt die recht simple und nur ausschnitthafte Geschichte des Viktor von Aveyron dafür, gesellschaftliche und pädagogisch-wissenschaftliche Anliegen nie Überhand gewinnen zu lassen. Eine abstrahierte Betrachtungsweise erübrigt sich somit ebenso schnell wie eine trockene Erzählweise. Durch seinen Charakterbezug und seine genaue Inszenierung hält der Film eine Spannung in der Langwierigkeit des Lernens aufrecht, in der selbst die kleinsten Erfolge zu Meilensteinen werden.

Die Kamera verfolgt diese Momente mit besänftigender Ruhe. Die Schwarzweiß-Aufnahmen halten an der Zurückhaltung und Nüchternheit der Erzählweise fest, selten gibt es Großaufnahmen oder komplexe Einstellungen. Dennoch entwerfen die Bilder einen unverzichtbaren Teil der Atmosphäre,  sei es in den einengenden und Ordnung vermittelnden Räumlichkeiten des Doktors oder auf Schönwetter durchdrungenen Wiesen und im Wald, – einem grundlegenden Kontrast des Films, der sich nicht nur in den Bildern wiederfindet. Auch der sehr gezielte und zurückhaltende Einsatz der Musik unterstreicht zwei voneinander fremde Lebenswelten, eine, in der Natur- und Tiergeräusche überwiegen und eine, die Menschengemachte, in denen Stücke von Vivaldi anklingen.

Bewertung Michel RieckFazit

Ein Werk frei von Kitsch und Sentimentalität. DER WOLFSJUNGE ist ein dokumentarisch eingefangenes Porträt eines ungewöhnlichen jungen Lebens, herausragend gespielt und gezielt beobachtet. Truffaut verknüpft einige seiner Kernthemen rundum Bildung und Erziehung in geduldiger, aber ebenso kurzweiliger Filmkunst. Ein persönlicher und wichtiger Film, der vor allem durch seine Authentizität und weniger durch seine großen Bilder beeindruckt und nachhaltig Diskussionsstoff bietet.

Schauspieler:in Rolle
Françios Truffaut Le Dr Jean Itard
Jean-Pierre Cargol Victor
François Seigner Madame Guerin
Jean Dasté Professor Philippe Pinel
Annie Miller Madame Lemeri
Claude Miller Monsieur Lemeri
Paul Villé Remy
Nathan Miller Baby Lemeri
Mathieu Schiffman Mathieu
Jean Gruault Visitor at Institute
Robert Cambourakis Countryman
Gitt Magrini Countrywoman
Jean-François Stévenin Countryman
Laura Truffaut Mädchen auf der Farm