Mittlerweile hat unser filmischer Jahresrückblick die Hälfte des aktuellen Kinojahres erreicht und stößt in den Sommer 2024 vor. Zwischen Urlaubssaison und Heim-EM im Fußball sind auch in den ersten zwei Sommermonaten allerhand Filme in den deutschen Kinos gelandet. Einige davon haben wir uns für unseren Rückblick ausgewählt: Hier sind die Kinostarts im Juni und Juli 2024.
Mystery-Debüt
Noch bevor M. Night Shyamalans neuster Thriller TRAP: NO WAY OUT in den deutsche Kinos startete, war der Nachname Shyamalan hierzulande auf den Leinwänden zu lesen. Mit THEY SEE YOU inszenierte Ishana Shyamalan, die Tochter des für seine gelungenen und noch mehr für sein misslungenen Twists bekannten Regisseurs, ihr Regiedebüt. Basierend auf der Romanvorlage The Watchers dreht sich ihr Mystery- und Horrorelemente verarbeitendes Erstlingswerk um eine Künstlerin, die in einem Wald im Westen Irlands strandet und einen mysteriösen Unterschlupf findet.
Mehr Furcht als Ishana Night Shyamalans metaphorisches Monster-Märchen beim Publikum weckt oder seine Figuren durchleben lässt, weckte die ausdrucksarme Adaption A.M. Shines gleichnamigen Romans augenscheinlich bei der Regisseurin. Die wagt weder von den inszenatorischen Manierismen ihres prominenten Vaters abzuweichen, noch von der Buchvorlage. Deren forcierte Verknüpfung von Medienkritik und Mythologie zieht die komplexen Motive ins Alberne, das die anfangs effektiv aufgebaute Spannung nachhaltig untergräbt. (Lida Bach)
Anfang Juni starteten zudem das routiniert gefilmte und gespielte Historiendrama KING’S LAND von Nikolaj Arcel, für dessen Hauptrolle Mads Mikkelsen den Europäischen Filmpreis 2023 erhielt, sowie die Fortsetzung der BAD BOYS-Reihe BAD BOYS 4: RIDE OR DIE von Adil El Arbi und Bilall Fallah. Eine Woche später durfte dann auch Pixars-Animationsfilm ALLES STEHT KOPF eine Fortsetzung sein Eigen nennen und Tilda Swinton und Julio Torres in Torres surrealistisch-komödiantischen Spielfilmdebüt PROBLEMISTA in mindestens genauso kunterbunte Welten eintauchen.
Biker-Kino und Blut-Collage
Auf aufgemotzten Motorrädern stießen Mitte Juni die Biker aus THE BIKERIDERS auf die Leinwände vor: Auf Grundlage einer gleichnamigen Fotochronik von Danny Lyon inszenierte MUD-Regisseur Jeff Nichols einen Old-School Kriminalfilm um eine Biker-Gang.
Dass die Verfilmung eines Biker-Bildbands wie Jeff Nichols‘ Leinwand-Adaption Danny Lyons gleichnamiger Chronik seiner Jahre als Mitglied des Chicagoer Motorcycle Clubs The Outlaws nicht gerade tiefgründige Charaktere liefert, mag kaum überraschen. Umso enttäuschender ist der Mangel an Stimmung und Schauwerten einer sentimentalen Story mit so viel Tempo und Temperament wie eine pathetische Postkarten-Revue. Deren Vision mechanisch maximierter Männlichkeit und brutaler Blutsbrüderschaft ist ein synthetisches Surrogat von Authentizität und Außenseitertum. Das ist selbst in fiktiver Form nur noch das Imitat eines imaginären Ideals, das der von Tom Hardy mit passend brandoeskem Bravado verkörperte Anführer Johnny von THE WILD ONE buchstäblich abgeguckt hat. (Lida Bach)
Ende des Monats Juni rundete u. a. A QUIET PLACE: TAG EINS den Kinomonat Juni ab, ehe mit MAXXXINE Anfang Juli ein weiterer dritter Teil einer Horrorreihe in den Startlöchern stand. In diesem versucht Maxine sechs Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils eine Schauspielkarriere in Hollywood zu starten, während zur selben Zeit ein Mörder sein Unwesen in Los Angeles treibt. Nicht nur Mia Goth lief dabei einmal mehr zur Hochform auf.
Das geschickt geflochtene Netz doppel- und dreibödiger Anspielungen besticht als differenzierte Auseinandersetzung mit einem Genre, das einerseits durch drastische Darstellungen Grenzen auslotete, andererseits moralistische Wertsysteme auf dramatischer Ebene bediente. Die exzellente Besetzung, allen voran Mia Goth, liefert das psychologische und emotionale Fundament der bitterbösen, blutrünstigen Bilder, von denen jedes ein Genuss ist. (Lida Bach)
Liebe stirbt nicht
Einen filmischen Leckerbissen ganz anderer Art, auch anders, als es der deutsche Titel des Films vermuten lässt, hielt EIN KLEINES STÜCK VOM KUCHEN nur eine Woche später bereit. Das Spielfilmdrama des iranischen Regieduos Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam widmete sich der Begegnung zweier Siebzigjähriger, die nach kurzem Kennenlernen einen ganz besonderen Abend miteinander verbringen. Empathisch, großartig gespieltes Schauspielkino trifft auf bittere, politische Allegorien:
Irgendwann scheint all die positive Lebensenergie, die der Film unmittelbar in intime Figureneinblicke wandelt, aufgebraucht. Die vermeintliche Zeitlosigkeit des Abends versiegt, allegorische Andeutungen, die die gesellschaftliche und politische Vergangenheit und Gegenwart des Irans versinnbildlichen, ziehen sich zu einem tragischen Schlussakkord zusammen, die zuvor beharrlich aufgebauten Glücksmomente versiegen endgültig. Behtash Sanaeehas und Maryam Moghaddams vor feinen Gesten strotzende Regiearbeit endet hoffnungsloser, als es der Ton des Films lange Zeit verspricht. Zurück bleiben Minuten des Schweigens, verwackelte Schnappschüsse und eine freie Vergangenheit, die begraben wird. Aber auch Momente wie jene, in denen die Frage, ob man zusammen Wein anbauen wolle, so verliebt und herzlich zum Ausdruck gebracht wird, wie nie zuvor. (Paul Seidel)
Neben EIN KLEINES STÜCK VOM KUCHEN startete ein weiterer Film des diesjährigen Berlinale-Programms in den deutschen Kinos. Die Rede ist von Rose Glass‘ schlagkräftigen queeren Genreritts LOVE LIES BLEEDING.
Roh und zugleich einfühlsam entwickelt sich die Romanze der jungen Frauen, die als eines von vielen Puzzlestücken Rose Glass’ zweite Regierarbeit eindringlich füllt. Ein anderes dreht sich um die Familie, oder vielmehr deren Oberhaupt, das tiefer noch als die Abgründe vor der Kleinstadt New Mexicos in die verbrecherischen Strukturen der Gegend verstrickt ist. Fließen beide Aspekte der Geschichte ungehindert ineinander, beginnen nicht nur die Figuren innerlich und äußerlich, sondern auch die Bilder des Films vor Wut kochen. (Paul Seidel)
Tiefdruckgebiet
Sand- und Eisstürme fegten in diesem Jahr bereits über die große Leinwand hinweg, fehlt nur noch das Comeback der Sturmjägerr*innen und ihrer Tornados: Knapp 30 Jahre nach Erscheinen Jan de Bonts Katastrophenfilms TWISTER folgte nun also TWISTERS in die Reihe an Sequels, die in diesem Jahr abermals weite Teile des Mainstream-Kinoprogramms bestimmten.
Lee Isaac Chung, Regisseur von MINARI – WO WIR WURZELN SCHLAGEN, übernahm die Regie von TWISTERS, aber nur wenige seiner aus dem Oscarkandidaten über eine koreanisch-amerikanische Familie im Arkansas der 1980er Jahre bekannten, zurückhaltenden und sensiblen Facetten.
TWISTERS ist eine Fortsetzung ohne wirklichen Bezug zum Vorgänger, arbeitet aber bekannte Storyelemente von diesem wie schon ein TOP GUN: MAVERICK stationsweise ab. (…)
Ironischerweise hat Glen Powell in beiden Legacy-Sequels eine entscheidende Rolle, auch wenn die Rolle in TWISTERS umfangreicher ist. Aber das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zum Fliegerass-Film mit Tom Cruise. Denn TWISTERS kann durch durchdachte Umstrukturierungen sowie bessere Effekte beim Publikum mehr punkten als TWISTER. Das Trauma ist greifbarer, als im Vorgänger, die Teams konkurrieren zwar, harmonieren aber auch und das Sequel verzichtet auf eine erzwungene Liebesgeschichte, ohne dabei auf eine leicht flirtende Dynamik zwischen Daisy Edgar-Jones und Glen Powell zu verzichten. (Hel)
Die Grenzen zwischen Ländern und Multiversen
Bevor das Blockbusterkino am letzten Startwochenende im Juli noch einmal aufs Gaspedal trat, nahm unter anderem ein kleiner Film aufgeblähten Kinogiganten Wind aus den Segeln. Bekannt geworden ist Levan Akin schon mit seinem Film ALS WIR TANZTEN, der schwedischen Einreichung für den Besten Internationalen Film 2020, im Juli war sein aktueller Film CROSSING nun auch in den deutschen Kinos zu sehen.
Es zieht sie umher, die Figuren Levan Akins neusten Spielfilms. Von ihrer Heimat in Georgien ins türkische Istanbul, von einer kleinen Familie und Nachbarschaft ins Herz einer Großstadt, von dunklen Hotelzimmern hinaus auf die nächtlichen Straßen. Genauer noch zieht es die pensionierte Geschichtslehrerin Lia (Mzia Arabuli) auf die Suche nach Thekla, der erwachsenen Tochter ihrer Schwester. Im Schlepptau: einen jungen Nachbarn namens Achi (Lukas Kankava), der dem Leben mit der Familie seines älteren Bruder entfliehen will. Es zieht sie auf eine ungewisse Reise, leisen Fährten der verschollenen Nichte folgend und zugleich immer einen Schritt weiter ins eigene Innere.
Fünf Jahre nach seinem letzten eingängigen Spielfilm begibt sich Levan Akin auf eindringliche Spurenlese. Auf eine Suche nach Menschen, Antworten und einem Platz in der Zukunft, deren filmische Fährte sich entschleunigt und nahbar dahinzieht. Vor sich hin treibendes, zuweilen unentschlossenes, aber stets lebendig pulsierendes Kino. (Paul Seidel)
Manche Filme sind zu groß, um sie in einem Jahresrückblick wie diesem zu übersehen. DEADPOOL UND WOLVERINE ist ein solcher Film, der für einige Hardcore-Fans des MCU vielleicht immer noch funktionieren mag, als Marketingmaschine im Filmgewand aber nicht mehr als grausig kalkuliertes, blasses Blockbuster-Kino liefert.
Vielleicht war es ein Ansinnen, sich den mitunter trashigen Ausflügen oder gescheiterten Filmprojekten jener Figuren anzunähern, die hier neben Wolverine ihr müdes Comeback feiern. Wirkungsvoller und schlüssiger macht es all die erzählerische Willkür und leblos zusammengeflickten Ideen nicht. Letztlich hat DEADPOOL & WOLVERINE mehr postertaugliche und in Slow-Motion gefilmte Helden-Entrances als überhaupt echte Helden; mehr Klingen, die durch Menschenköpfe schnellen als ernstzunehmende Konflikte; mehr Probleme, eine referenzunabhängige, kreative oder überhaupt eine Geschichte zu erzählen, als es ein Film dieser Art haben sollte. Über letztere hilft die blutdurchtränkte Comicabsurdität und einhundert Deadpool-Varianten gewiss (Comic-)Fans hinweg, allen anderen nicht einmal ein Hund. (Paul Seidel)
Weitere Kinostarts im Juni 2024
5.6.
WATCHING YOU – DIE WELT VON PALANTIR UND ALEX KARP von Klaus Stern
MORGEN IRGENDWO AM MEER von Patrick Büchting
MEIN TOTEMTIER UND ICH von Sander Burger
12.6.
ALLES STEHT KOPF 2 von Kelsey Mann
SICCIN 7 von Alper Mestci
DER SCHATTEN DES KOMMANDANTEN von Daniela Völker
EIN SCHWEIGEN von Joachim Lafossse
SLEEP WITH YOUR EYES OPEN von Nele Wohlatz
19.6.
STING von Kiah Roache-Turner
HAIKYU!! DAS PLAYOFF DER MÜLLHALDE von Susumu Mitsunaka
IVO von Eva Trobisch
ETERNAL YOU – VOM ENDE DER ENDLICHKEIT von Hans Block
26.6.
DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS von Anna Novion
DADDIO – EINE NACHT IN NEW YORK von Christy Hall
3.7.
HIT MAN von Richard Linklater
“Wenn auch bei Weitem nicht so famos wie der minutenlange Applaus bei der Premiere in Venedig erhoffen lässt, liefert Richard Linklaters kurzweilige Krimi-Romanze immerhin ausreichend überraschende Wendungen und mitunter mörderische Pointen.” (Lida Bach)
KINDS OF KINDNESS von Yorgos Lanthimos
AM I OK? Von Tig Notaro und Stephanie Allynne
DAS LAND DER VERLORENEN KINDER von Marc Wiese und Juan Camilo Cruz
EXILE NEVER ENDS von Bahar Bektas
10.7.
ICH EINFACH UNVERBESSERLICH 4 von Patrick Dealge und Chris Renaud
FÜHRER UND VERFÜHRER von Joachim Lang
TO THE MOON von Greg Berlanti
NATASCHAS TANZ von Jos Stelling
17.7.
VERBRANNTE ERDE von Thomas Arslan
ISS von Gabriela Cowperthwaite
JULIETTE IM FRÜHLING von Blandine Lenoir
“Auch stilistisch weicht JULIETTE IM FRÜHLING von der Seite vieler prüder, rein auf Slapstick ausgelegter Genrevertreter: etwa mit der erfrischend natürlichen Inszenierung von Nacktheit und Körpern abseits verklärter Ideale. Mit wenigen Überraschungen in ihrer Erzählung, aber ebenso wenig Scheu hat sie vielen anderen Komödien schon damit etwas voraus.” (Paul Seidel)
24.7.
ZWEI ZU EINS von Natja Brunckhorst
DIE ERMITTLUNG von RP Kahl
und weitere Filme…
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