Rezension
Leise transformiert sich ein Wohnblock: vom räumungsbedrohten Wohnhaus zum lebendigen Rückzugsort, von Korridoren mit flackernden Lichtröhren zum Medium, das Leuchtsignale aussendet, vom sanierungsbedürftigen Zuhause zur Raumstation in der Schwerelosigkeit. Mittendrin: der sechzehnjährige Juri, der das reale Schicksal des roten Backsteingebäudes, in dem seine fiktive Geschichte angesiedelt ist, aus nächster Nähe erlebt. Und mit diesem das Ende der französischen Sozialbausiedlung Cité Gagarine. An dem Ort festzuhalten, in dem er schon sein ganzes Leben lang verbracht hat, steht für den jungen, von Alséni Bathily gespielten Träumer außer Frage. Ganz gleich ob die Pariser Verwaltung andere Pläne für den mehr als 350 Apartments umfassenden und viele vertraute Gesichter bergenden Wohnkomplex hat.
In den mitunter maroden Wohnhauswänden schlummern früh die Probleme, Emotionen und Sehnsüchte der jugendlichen Protagonist*innen, die im Falle des jungen Juris sogar konkrete Form annehmen. Nicht nur sein Name und der der Sozialbausiedlung verknüpfen sich eng mit Kosmonaut Juri Gagarin, auch seine in Gestalt tretenden Gedanken und Vorstellungen sehnen sich nach dem All wie einst jener erste Mensch im Weltraum. Schwerelos scheinen dann irgendwann nicht nur die Sets und die Hauptfigur selbst, sondern auch die Grenzen des anfänglichen Sozialdramas, das die Lebenssituation Einzelner sowie die Fortschritte der Räumung zwar aufgreift, sich aber bis in traumartige “Science”-Fiction ausdehnt.
Losgelöst vom Plattenbau
So tief wie sich Juri in seinen Träumen in unendliche Weiten vortraut, reicht der Blick in das zentrale Milieu der Hauptfigur selten. Zu oft liegen die komplexen Probleme und Strukturen innerhalb des Wohnblocks oder auch die äußeren Bedingungen die zur Ansiedlung und nun zur kollektiven Räumung führen, unter den schwelenden Weltraum-Metaphern verborgen. Und mit ihnen auch eine weiterführende Auseinandersetzung mit realen Konflikten wie der Wohnungskrise oder fortschreitenden Marginalisierungen. Kern des Films bleibt Juris persönliche Geschichte, die wiederum auch nur einen bestimmten, mit halluzinativen Ausflügen und Sehnsüchten gespickten Ausschnitt fokussiert: Eine überwiegende Ein-Mann-Mission sozusagen, die persönliche Einsamkeits- und Emanzipationserfahrungen streift.
Dass das Langfilmdebüt Fanny Liatards und Jeremy Troulihs aus einem Kurzfilm heraus entstanden ist, erscheint dabei kaum verwunderlich. Wenige Charaktere und überwiegend eine einzige Kulisse, die in den mystischen Interaktionen mit Nachwuchsdarsteller Bathily zur eigenen Figur wird, bilden den Rahmen der überschaubaren Erzählung, die sich zwischen sozialkritischen Momenten immer mehr als modernes wie romantisches Märchen erweist: ob mit ihrer sehnsuchtsvollen, raumfahrtverliebten Inszenierung, ihren oft nur skizzenhaften Konfliktbetrachtungen, mit der sanftmütig dargestellten Beziehungskonstellation, dem dick aufgetragenen Ende, oder allein mit den Tagträumen ihrer jungen Hauptfigur.
Fazit
GAGARINE hebt zwar nie wirklich von der Erde ab, ist jedoch öfter in den ausgedehnten, schwerelosen Vorstellungen und hoffnungsvollen Träumereien seiner Hauptfigur versunken, als in seinem potentialreichen Sozialdrama. Dessen Facetten verlieren sich trotz nahbarer Kameraarbeit irgendwann in kitschigen Science-Fiction-Motiven.
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Originaltitel | Gagarine |
Kinostart | 11.11.2020 |
Länge: | 95 minuten |
Produktionsland | France |
Genre: | Drama |
Regie | Fanny Liatard | Jérémy Trouilh |
Producer | Julie Billy | Carole Scotta |
Kamera | Victor Seguin |
Musik | Amine Bouhafa | Sacha Galperine | Evgueni Galperine |
Cast | Alséni Bathily, Lyna Khoudri, Jamil McCraven, Finnegan Oldfield, Farida Rahouadj, Denis Lavant, César 'Alex' Ciurar, Rayane Hajmessaoud, Meta Mutela, Ion Roman, Florin 'Beti' Opasche, Ibrahim Gilbert, Diarra Dagnon, Sara Allazkani, Kessiah Vossah, Bakary Kebe, Michel Pichon, Romain Poulet, Mohammed Sadi, Jérémy Trouilh |
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