Es war das Jahr 2018, als ein unbekannter Regisseur mit seinem Debutfilm einen der bedeutendsten Horrorfilme der letzten Jahre, vielleicht auch aller Zeiten in die Kinos bringen sollte. Der damals 32-jährige Ari Aster hatte am American Film Conservatory einen Masterabschluss in Regie gemacht und sich bereits einen guten Ruf mit Kurzfilmen wie THE STRANG THING ABOUT THE JOHNSONS oder BEAU erarbeitet. Sein erster Spielfilm, der von dem Studio A24 veröffentlicht wurde, lief am 31. Januar 2018 auf dem Sundance Film Festival und war ein Hit beim Publikum. Der Film wurde vom Magazin The Rolling Stone als unheimlichster Film 2018 betitelt und sollte der bis dahin größte Erfolg des kleinen Independent Studios werden.
Ari Aster hat HEREDITARY gemeinsam mit seinem Freund Pawel Pogorzelski inszeniert. Schon in Asters Kurzfilmen haben die beiden zusammengearbeitet und mit Pogorzelski an der Kamera einen einzigartigen visuellen Stil kreiert, den man auch in Asters zweitem Film MIDSOMMAR erkennen kann. In dem intensiven Horrorfilm begleiten wir eine Familie, die sich mit ihrem Vermächtnis auseinandersetzen muss. Im Zentrum des Geschehens steht dabei Toni Collette als Annie Graham, die mit ihrem Mann Steve, gespielt von Gabriel Byrne und ihren Kindern Peter und Charlie, verkörpert durch Alex Wolff und Millie Shapiro, in einem riesigen abgelegenen Haus wohnt. In einer der Nebenrollen ist außerdem die großartige Ann Dowd zu sehen, die man aus THE HANDMAIDENS TALE oder THE LEFTOVERS kennen könnte.
WICHTIGER HINWEIS:
Vielen Dank, dass ihr meinen Text lest, das freut mich wirklich sehr. Falls ihr HEREDITARY noch nicht kennt, möchte ich euch den Tipp geben den Film mit so wenig Vorwissen wie möglich anzuschauen. Ich werde in diesem Text nichts spoilern, trotzdem sollte man am besten gar nichts über ihn wissen und sich überraschen lassen. Kommt nach dem Schauen gerne wieder und erzählt mir, wie euch der Film gefallen hat.
Darum geht es…
Vor kurzer Zeit ist Annies (Toni Collette) Mutter gestorben, nun steht sie auf der Beerdigung, soll eine Grabesrede halten, weiß aber nicht so recht, was sie über ihre Mutter erzählen soll. Die beiden hatten ein schwieriges Verhältnis zueinander, sodass Annie nicht viel über ihre Mutter wusste. Jahrelang hatten sie keinen Kontakt zueinander, bis zur Geburt von Annies Tochter Charlie (Millie Shapiro). Obwohl Annie in ihrer Kindheit wenig Liebe von ihrer Mutter erfahren hat, hatte die alte Frau ein umso besseres Verhältnis zu ihrer Enkelin. Charlie scheint die einzige zu sein, die unter dem Ableben des Familienmitglieds leidet. Ihr Bruder Peter (Alex Wolff) scheint gleichgültig zu sein, sowie ihr Vater Steve (Gabriel Byrne). Während die introvertierte Charlie im Stillen trauert, vergräbt sich Annie in ihre Arbeit. Sie ist Modellbauerin und steht kurz vor einer Ausstellung über ihr Leben. In ihren Miniaturen verarbeitet sie prägende Momente ihres Lebens, Ereignisse, die sie zu der Frau gemacht haben, die sie heute ist. Als sie eines Abends gerade ihr Atelier verlassen will, sieht sie eine Gestalt im Schatten, die sie beobachtet. Es passieren immer mehr seltsame Dinge und Annie bemerkt, dass ihre Mutter viele düstere Geheimnisse hatte.
Rezension
HEREDITARY ist der erste Spielfilm von Ari Aster, der seitdem ein großer Name im Horrorgenre geworden ist. Auch wenn er bisher neben diesem Film nur MIDSOMMAR veröffentlicht hat, haben seine Filme bei den meisten Zuschauer*innen einen so bleibenden Eindruck hinterlassen, dass es sich jetzt schon um moderne Klassiker handelt. Aster folgt einer neuen Ausrichtung des Horrorkinos, Filme die sich auf einer psychologischen Ebene mit unseren Ängsten auseinandersetzen, wir haben es nicht nur mit einer übernatürlichen Gefahr zu tun, sondern einer Bedrohung, die tief in der Existenz seiner Figuren verwurzelt ist. So sieht man in HEREDITARY auf der einen Seite einen unglaublich unheimlichen Horrorfilm, aber auch eine Metapher für die Last, die von einer Generation zur nächsten vererbt wird. Dabei hat Aster einen Film geschaffen, der mit den üblichen Sehgewohnheiten bricht. Man bekommt hier zwar einen Film, der sich im Nachhinein ganz klassisch in drei Akte aufteilen lässt. Allerdings ist HEREDITARY voller mutiger Entscheidungen, und unerwarteter Momente, dass es einen beim Schauen kalt erwischt.
Um hier eine kleine Geschichte zu erzählen, die sich auf viele Momente im Film anwenden lässt. Es gibt relativ früh eine sehr intensive Szene zwischen Peter und Charlie, also den beiden Geschwistern. Dort kommt es zu einem überraschenden Moment, der sich anfühlt, als hätte man einen heftigen Schlag gegen den Kopf bekommen. Diesen unglaublich starken Augenblick lässt Aster für mehrere Minuten in Ruhe nachwirken, sodass man sich unsicher ist, was gerade passiert ist. Es gibt nur wenige Horrorfilme, denen es gelingt, einen so heftigen Schock zu erzeugen, ohne auf billige Tricks wie die obligatorische Katze aus dem Schrank zurückzugreifen. HEREDITARY ist ein Film der vollkommen ohne diese sogenannten Jumpscares auskommt und seinen kompletten Grusel aus der unangenehmen Atmosphäre zieht. Wir beobachten dabei eine Familie, die nicht weiß, wie sie mit dem Tod eines Familienmitgliedes umgehen soll und eine tiefe Wut in sich aufbaut. Besonders zwischen Alex Wolff und Toni Collette entstehen so einige sehr starke Szenen. Collette wirft ihrem Filmsohn Dinge an den Kopf, die eine Mutter niemals sagen würde und gibt das Trauma ihrer Kindheit an ihren Sohn weiter.
Ein Spielzeughaus voller Überraschungen
Ein großes Lob geht an alle Schauspieler*innen im Film. Jede Figur fühlt sich echt an und wahrscheinlich hätte es keine besseren für die Rollen gegeben. Als erstes wäre da Millie Shapiro zu nennen. Die damals 15-jährige hat bereits in ihrer Rolle als MATHILDA am Broadway geglänzt und spielt hier nun ein junges introvertiertes Mädchen, dass eine sehr unheimliche Aura umgibt. Spätestens wenn sie mit dem fiesen Schnalzen der Zunge anfängt, sorgt sie dafür, dass uns ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Ein weiterer großartiger Performer ist Alex Wolff in seiner Rolle als Peter. Zuerst wirkt er wie der typische Highschool Kiffer, ohne weitere besondere Eigenschaften. Im weiteren Verlauf des Films verleiht Wolff seiner Figur allerdings eine unglaubliche emotionale Tiefe. Man bekommt den Eindruck, dass man es hier mit einem echten überforderten Teenager zu tun hat. Den größten Raum nimmt allerdings Toni Collette als Annie ein. Eigentlich hatte sie nicht mehr vor ernste Rollen zu spielen und wollte sich mehr auf Comedy konzentrieren, doch als sie das Drehbuch zu HEREDITARY von ihrem Agenten bekommen hat, war sie so beeindruckt, dass sie ein Teil des Projektes werden wollte. Zum Glück! Collette ist die perfekte Besetzung für Annie. Sie spielt die Rolle mit voller Hingabe, zeigt uns die Trauer über den Verlust, Wut, Angst, jede erdenkliche Emotion. Für sie ist das höchste Ziel die zerrüttete Familie wieder zusammenzuführen und den Schrecken zu überwinden.
Besonders beeindruckend ist HEREDITARY durch seine Bildsprache. Das Haus wurde komplett in einem Studio nachgebaut, damit in die einzelnen Räume wie in ein Puppenhaus gefilmt werden kann. Häufig kann man nicht unterscheiden, ob man gerade in eines der Modelle von Annie blickt, oder in einen echten Raum. Darüber hinaus schaffen es Aster und sein Kameramann Pawel Pogorzelksi nicht nur im Dunkeln gruselige Bilder zu erzeugen. Alle Szenen, die bei Tag spielen wirken ein kleines bisschen zu hell, sodass man spürt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, es aber nicht genau benennen kann. Dabei werden diese Bilder vom Jazz-Saxofonisten Colin Stetson unterstützt. Durch teilweise disharmonische Töne sorgt er ebenfalls für eine unangenehmen Stimmung. Insgesamt entsteht dadurch ein diffuses Gefühl von Unbehagen, dass uns den ganzen Film begleitet.
Fazit
Ich gebe nur sehr selten die volle Punktzahl, aber was soll ich sagen, für mich ist HEREDITARY nicht nur einer der besten Horrorfilme, sondern auch einer der besten Filme aller Zeiten. Es ist beeindruckend was ein junger Regisseur wie Ari Aster hier mit einem geringen Budget und einer klaren Vision auf die Beine gestellt hat. Alle Schauspieler*innen liefern in dem Film unfassbare Performances ab, der Film ist wahnsinnig unheimlich und überraschend. Ich saß mehrmals vor dem Bildschirm und konnte nicht fassen, was ich da gerade gesehen habe. Aster bricht mit üblichen Konventionen wie dem Jumpscare und inszeniert ungewöhnliche Filme, die bis ins kleinste Detail stimmig sind. Diesen Text schreibe ich einen Tag nachdem ich HEREDITARY gesehen habe und auch wenn ich jetzt schon weiß, worum es in dem Film geht, könnte ich ihn mir direkt nochmal ansehen. Ari Aster sollte man sich merken, wahrscheinlich wird er zu einem der größten Regisseure aller Zeiten. Im nächsten Jahr bekommen wir spätestens neues Futter mit seinem dritten Film DISAPPOINTMENT BLVD., ein Film, der auf vier Stunden angelegt ist und Joaquin Phoenix in der Hauptrolle hat.
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Originaltitel | Hereditary |
Kinostart | 14.06.2018 |
DVD/Blu-ray – Release | 26.10.2018 |
Länge | ca. 127 Minuten |
Produktionsland | USA |
Genre | Drama | Horror | Mystery |
Verleih | Splendid Film |
FSK |
Regie | Ari Aster |
Drehbuch | Ari Aster |
Produzierende | Gabriel Byrne | Tyler Campellone | Scott E. Chester | Toni Collette | Beau Ferris | Kevin Scott Frakes | Jonathan Gardner | William Kay | Lars Knudsen | Ryan Kreston | Buddy Patrick | Jeffrey Penman | Brandon Tamburri |
Musik | Colin Stetson |
Kamera | Pawel Pogorzelski |
Schnitt | Lucian Johnston | Jennifer Lame |
Besetzung | Rolle |
Toni Collette | Annie |
Milly Shapiro | Charlie |
Gabriel Byrne | Steve |
Alex Wolff | Peter |
Christy Summerhays | Charlies Lehrerin |
Morgan Lund | Mr. Davies |
Mallory Bechtel | Bridget |
Jake Brown | Brendan |
Harrison Nell | Student |
BriAnn Rachele | Student |
Heidi Méndez | Spanisch sprechende Frau |
Moises L. Tovar | Übersetzer |
Jarrod Phillips | Group Leader |
Ann Dowd | Joan |
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