Während der letzte Film der 56. Internationalen Hofer Filmtage bereits am 30. Oktober 2022 über die Leinwand flimmerte, sind etliche der über 100 Lang- und Kurzfilme noch bis einschließlich 6. November im hauseigenen Streamingbereich verfügbar. Nach einigen Tagen des Durchforstens der umfangreichen Festival-Mediathek und mit den kommenden Tagen im Blick, sollen nun verschiedene Gedanken zum Festival folgen, die sich aufgrund ausschließlicher Online-Teilnahme auf die Online-Präsenz seit 1967 bestehenden Filmfestivals stützen.
Gesellschaft im Kino und Gesellschaft im Film
Ja, natürlich sind einige der Filme in erster Linie für die Leinwand und einen ausgebuchten Kinosaal bestimmt. Den Festivalberichten und Zusammenschnitten sowie der Social-Media-Präsenz einzelner Filmcrews zu Folge insbesondere wegen des Livepublikums. Dies und jenes ließ sich schwer ins abgedunkelte Zimmer holen und auch nicht aufs Streaming/Fernsehsetup projizieren, wenngleich zumindest bei einzelnen Filmen die Möglichkeit bestand, sich mittels abrufbaren Q&A und Grußbotschaften der Filmemacher*innen einen Teil des Festivalfeelings nach Hause zu holen. Nachfolgend sollen also vor allem filmische Eindrücke im Vordergrund stehen, die Interessierte auch ganz ohne Besuch vor Ort erleben können.
Zum Leitthema „Gesellschaft“ steuern viele Filme der diesjährigen Festivalausgabe unterschiedlichste Perspektiven bei. Egal ob auf der Suche nach Halt, nach Identität und nach Geheimnissen, so weitere thematische Untergliederungen des Festivals, ob in fiktionaler oder dokumentarischer, kurzer oder langer Form, – die Filmauswahl umreißt ein breites Spektrum aktueller Diskurse und Themenkomplexe: Zu viele für ein konkreteres Motto, abwechslungsreich genug, um von einer Dokumentation über einen schwedischen Skateboard-Profi in einer Komödie über das deutsche Schlager-Business oder einem Schwarzweiß-Experiment mit einem wolfsversessenen Makler zu landen.
Deutsches Kino im Fokus
Ein geografischer Schwerpunkt seither: deutsche Produktionen. Selbstverständlich für ein Festival, auf dem deutsche Regiegrößen wie Wim Wenders (Namenspräger des Mottos Home Of Films), Werner Herzog (Gründungsmitglied des Fußballteams FC Hofer Filmtage) und Rainer Werner Fassbinder (dem dieses Jahr gemeinsam mit Schauspielerin Hanna Schygulla und Kameramann Michael Ballhaus eine Fotoausstellung von Michael Friedel zugeschrieben war) zu Gast waren, dass auch in diesem Jahr etliche (Erstlings-)Werke aus Deutschland stammen. Euphorie möchte sich nach bisher acht gesehenen deutschsprachigen Produktionen allerdings nur verhalten einstellen.
Deren Fußabdrücke in der Filmlandschaft sind zögerlich, vereinzelt auszehrend, obwohl angesprochene Themen durchaus interessante Diskussionsgrundlagen bieten. Wie der Film STUMM VOR SCHRECK mit Annette Frier in einer der Hauptrollen, in welchem ein Paar ein tragisches Ereignis zu verarbeiten versucht und ein verlassen geglaubtes Elternhaus zum Krisenherd der Beziehung wird. Verlustgefühle, Vorwürfe und Verarbeitungsstrategien vermengen sich in zum Teil dialogreichen, zum anderen beklemmend wortkargen Szenen. Ein kammerspielartiges Figurendrama, welches sich nicht immer so eindringlich entwickelt, wie es seine Prämisse hergeben würde. Vielleicht, weil der Film von Daniel Popat, der für sein Debüt den Hofer Kritiker Preis für die Beste Regie erhielt, eine große Improvisation ist, die, wenn man sich dessen bewusst ist, durchaus bemerkenswert, aber nicht unbedingt vereinnahmender ist.
Augenzwinkernder und mit weniger niederdrückenden Themen beschäftigt sich Sabine Koders BIS ES MICH GIBT. Zumindest so lang die amateurhafte Karriere von Entertainer Ricky Sokatoni, dessen zielstrebiger Schwester/Managerin Tanja Freitag sowie die überzeichneten (oder vielleicht doch noch untertriebenen?) Einblicke ins Schlager-Business im Vordergrund stehen. Wendet sich die Tragikomödie im zweiten Teil verstärkt dem durch Rückblenden etablierten Familienkonflikt zu, gewinnen ernstere Themen an Gewicht, die im Gesamtbild jedoch um ihre Wirkung ringen. BIS ES MICH GIBT wandelt zwischen Familiendrama, Showbiz-Komödie und Mockumentary-Einschlägen, bietet eine ganze Reihe an selbstüberzeugten, gescheiterten Persönlichkeiten, scheint das thematisierte Metier mal aufs Korn zu nehmen und dann doch wieder zu umarmen und spielt dabei (bewusst?) mit Geduld und Laune der Zuschauer*innen. Highlight: Gisa Flake als Entertainerin Hannah Salami.
Weitere deutschsprachige Beiträge neben Heike Finks Eröffnungsfilm OLAF JAGGER sind beispielsweise Franziska Pflaums MERMAIDS DON’T CRY, ausgezeichnet mit dem Bild-Kunst Förderpreis für ein liebevoll gestaltetes Kostüm- und Szenenbild, der österreichische Science-Fiction Film RUBIKON, ein in erster Linie zerdehnter und recht blasser Genrebeitrag, wenngleich genretechnisch für Abwechslung sorgend, und SESSHAFT von Rici Dohle, welcher mit seinen Schwarzweiß-Aufnahmen, seiner anhaltenden Eigenart und dem Wahnzustand zwischen Komödie, Horror und Thriller zumindest formal für frischen Wind sorgte.
Wind von Übersee
Nicht unbedingt frischer, aber mitunter eingehender überzeugen internationale Produktionen der diesjährigen Festivalausgabe. So etwa der schwedische Dokumentarfilm THE SCARS OF ALI BOULALA und das amerikanische Drama TO LESLIE, welches in den kommenden Wochen noch eine gesonderte Kritik erhalten soll. Ins Rahmenprogramm schlichen sich indes EMPIRE OF LIGHT, der aktuellste Film von Sam Mendes (1917) und Mark Mylods Mitte November in Deutschland erscheinender THE MENU, die zusammen mit Filmen wie dem mit dem Hofer Goldpreis ausgezeichneten CRASH von Karsten Dahlem jedoch nicht im Online-Programm gezeigt wurden.
Wohl im Programm: die US-amerikanisch-israelische Koproduktion JUNE ZERO von Regisseur Jake Paltrow. Eine dreigeteilte Geschichtensammlung, welche vor dem Hintergrund der Hinrichtung Adolf Eichmanns 1962 stattfindet und Figuren abseits des eigentlichen Prozesses begleitet. In unaufgeregten Bildern reihen sich die Geschichten eines Jungen, der in einer Fabrik zu arbeiten beginnt, die eines marrokanischen Gefängniswärters und eines polnischen Auschwitz-Überlebenden aneinander. Ein unterschiedliche Perspektiven übernehmendes, teilweise etwas loses und in seiner Episodenstruktur unrundes, in passendes Zeitcholerid getauchtes Filmdrama.
Einen fokussierten Blick behält sich der iranische Film BI ROYA – WITHOUT HER, der mit dem zum ersten Mal vergebenen Pharos Shiver Screen Award der Hofer Filmtage ausgezeichnet wurde. Im Zentrum von Arian Vazirdaftaris Spielfilmdebüt steht die Iranerin Roya, die kurz bevor sie mit ihrem Mann nach Dänemark auswandern kann, eine junge, scheinbar erinnerungslose Frau bei sich aufnimmt. Bald beginnt diese schrittweise Royas Identität zu übernehmen und den Platz an der Seite ihres Mannes einzunehmen. Es beginnt ein erschütternder und verzweifelter Kampf um ihre eigene Identität, welcher den Film vom anfänglich gemächlichen Drama zum Thriller umkehrt. Spannungsmomente wie Fragezeichen hinterlassende Filmkost, welche einzelne Figuren und Konflikte nur oberflächlich ausbaut.
Abschluss
Träume von Meerjungfrauen, Orchester im Schlafzimmer – auch dieses Jahr bot die Online-Ausgabe der Internationalen Hofer Filmtage einen vielseitigen Festivaleinblick. Technisch problemfrei und gelegentlich mit Zusatzmaterial ausgestattet, war fast jedem Spiel- oder Dokumentarfilm ein Kurzfilm vorangestellt, der die Aufmerksamkeit auf weitere junge Filmemacher*innen lenkte. Unterschiedlichste Konfliktkonstellationen, Figurenensemble und Bildformate diskutierten und formulierten das Leitthema „Gesellschaft“ inszenatorisch und erzählerisch aus, manche auf nachhaltige, manche auf weniger ausgeprägte Art und Weise. Ob sich das große Highlight noch unter einzelnen, sich auf der Merkliste befindenden Filmen verstecken wird, bleibt für den Autor dieses Textes bis zum Ende der ersten Novemberwoche noch ungewiss.
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