Langreview English Version Fakten & Credits
Das 21. Jahrhundert wird in der Filmbranche dominiert von Franchise und Sequels. Gerade im Blockbuster Format sehen wir nur noch selten originale, neue und kreative Werke. Besonders auffällig ist dabei, dass solche Reihen immer wieder von Regie- und Castwechseln geprägt sind und oftmals die ursprünglichen Stars hinter und vor der Kamera in den späteren Werken keinen Einfluss mehr üben. Recht häufig ist dies in der Qualität der Filme auch spürbar, da lediglich versucht wird eine Vision zu kopieren. Die JOHN WICK Filmreihe bildet hier jedoch eine große Ausnahme, denn Regisseur und Ex Stuntman Chad Stahelski und Hauptdarsteller Keanu Reeves sind ebenso Grundpfeiler aller Filme wie auch Laurence Fishburne, Ian McShane und Lance Reddick. Teile dieses Teams haben schon im vergangenen Jahrhundert bei MATRIX zusammengearbeitet. Es ist naheliegend, dass diese Konstanz und das Beibehalten des roten Fadens durch alle Werke hinweg massiv zum Erfolg der Streifen beitragen.
Darum geht es
John Wicks Rachefeldzug geht in eine neue Runde und nimmt diesmal noch größere Dimensionen an. Nachdem der Killer vom Leiter des Continentalhotels zwar angeschossen aber nicht getötet wurde, sieht sich die Hohe Kammer gezwungen eine Strafe zu verhängen. Während Winston seinem Verlust nachtrauert, wird auf John Wick weiter Jagd gemacht. Um sich seine Freiheit zu erkämpfen, setzt er auf die letzten ihm noch verbliebenen Freunde. Doch als auch diese sich teilweise gegen ihn wenden, scheint die Situation ausweglos und John bleibt nur noch eine letzte Möglichkeit. Er muss sich gegen den Marquis de Gramont wenden, um dem endlosen Morden ein Ende zu setzen. Doch dieser jagt ihn durch die gesamte Welt.
Rezension
Größer, schneller, höher, weiter, lauter und explosiver. An diesem Maßstab werden Sequels häufig gemessen, doch ist die Enttäuschung zumeist groß, da viele Filme diesen Anspruch nicht erfüllen können. Doch Chad Stahelski hat eine klare Vision und mit den JOHN WICK Filmen nicht nur eine Leinwandikone geschaffen, sondern auch eine spannende und schier unendlich groß wirkende Welt aufgebaut, die voller Geheimnisse steckt. In jedem neuen Film gilt es diese zu entdecken und stets ein Stück näher an das große Gesamtbild dieses dubiosen Mysteriums heranzurücken. Auch der vierte Teil steht seinen Vorgänger dabei in nichts nach und zeigt uns einerseits mehr von der durch Laurence Fishburne als Bowery King regierten Unterwelt, aber vor allem auch über die Hohe Kammer und die verzwickten Strukturen, die sich unter deren Regentschaft befinden. Auch Keanu Reeves‘ John Wick gewährt uns einen tieferen Einblick in seine Vergangenheit, ohne diese endgültig zu entschlüsseln.
Im Grunde sehen wir die allseits bekannte „Welttournee“, die in Sequels immer wieder ein Motiv ist, um eine Handlung expandieren zu lassen. Doch gestaltet Stahelski diesen Schritt deutlich geschickter, da die verschiedenen Orte tatsächlich eine Relevanz mit sich bringen und die Handlung stets nach vorne treiben. Während der Fokuspunkt bisher fast ausschließlich auf der Figur John Wick lag, sehen wir nun häufiger auch parallele Entwicklungen, die vor allem die Bedeutsamkeit der Continentalhotels noch einmal stärker hervorhebt. Nichts scheint einfach nur willkürlich ausgewählt. Mit 169 Minuten bekommen wir den bisher längsten JOHN WICK Film, der diese Zeit jedoch auch braucht und auskostet. Mittels eines wohl austarierten Pacings zwischen rasanten und perfektionistisch inszenierten Kampfsequenzen und ruhigen, oftmals visuell imponierenden Storysegmenten, wird der Film zu keinem Zeitpunkt langweilig. Stets ist man bestrebt dem Publikum etwas Neues und Bereicherndes zu bieten.
Auch ein Killer ist Opfer der Bourgeoise
JOHN WICK: KAPITEL 4 steht im Zeichen der Divergenz zwischen Arm und Reich sowie zwischen proletarischem Wiederstand und aristokratischer Machtbesessenheit. Wir lernen noch mehr Mythen und Mysterien kennen, bekommen tiefere Einblicke in die Gesellschaftsstrukturen und den damit verbundenen Regeln und Ordnungen und uns wird plausibel offenbart, dass wir noch immer nur einen kleinen Ausschnitt aus einer verzwickten Parallelrealität kennen. All das wird unter dem essenziellen Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit versteckt. Glücklicherweise werden diese eigentlich recht umfangreichen Themenkomplexe nicht in ewigen eintönigen Dialogen eingefangen, sondern mit äußerst präzise formulierten Auseinandersetzungen, die insbesondere von Reeves wohl lediglich ein einseitiges Dialogbuch umfassen. Das kann zeitweise schon etwas unbedarft und lächerlich wirken, entspricht aber der gesamten Charakterzeichnung und zeigt, dass hochgradig eloquente Gespräche nicht von Nöten sind. Vielmehr ist dies sogar symbolisch für die unterschiedlichen Persönlichkeiten.
Statt auf flache, lose Gags und vorhersehbare Pointen zu setzen, wächst der Streifen selbst zu einem karikaturistischen Gesamtkunstwerk zusammen, welches in aller Härte einen derben Humor mit sich bringt. Stahelski schafft es die rudimentärsten Gewaltgelüste anzusprechen und das Kind in jedem Actionfilmfan zu wecken. Freute man sich mit erwartungsvollen und glänzenden Augen bei Bud Spencer und Terrence Hill seiner Zeit auf den Dampfhammer und die smarten Kampfmoves von Hill, so erleben wir exakt die gleiche Freude nun, wenn Reeves eine gänzlich neue alttestamentarische Choreographie auspackt, die sichtbar handgemacht und authentisch – sofern dieser Begriff in der eigentlich total überzeichneten Welt genutzt werden kann – umgesetzt wird.
Doppelt hält besser
Die Kämpfe für sich sind eine Meisterleistung und auch in der dritten Fortsetzung ist weiter klar, dass John Wick nicht einfach nur Menschen tötet, sondern er die Person ist, die es wirklich zu Ende bringt. Auch wenn alle Beteiligten im Film immer wieder überraschend viel an Schlägen und Waffengewalt einstecken können (was dahingehend akzeptabel ist, dass diese fiktive Welt dies als Grundgesetzt rigoros durchzieht), so ist es Wick, der jemanden nicht nur erschießt sondern einen entsprechenden Kill auch absichert. Bekannt aus ZOMBIELAND findet hier die „Double Tap“ – Regel, die besagt, dass wenn man nicht sicher ist, ob jemand wirklich tot ist, man ihn nochmal töten solle, Anwendung. Doch wirklich schmerzhaft sind nicht die schier unendlich langen Kampfszenen, sondern oftmals die ruhigen Elemente, in welchen mit martialischen Ideen gearbeitet wird.
Insbesondere Fans der Reihe kommen auf ihre Kosten, weil Details aus früheren Filmen aufgegriffen und nun verarbeitet werden und dadurch eine innere Konnektivität entsteht, die Marvel mittlerweile längst vermissen lässt. Als elementar ist anzusehen, dass JOHN WICK: KAPITEL 4 sich ein großes Endziel definiert und zwischenzeitlich immer wieder kleinere neue Etappen festgelegt werden, die jede für sich eine bedrückende Ausweglosigkeit ausstrahlen. Dadurch gibt es immer einen klaren roten Faden, an dem das Publikum sich entlang hangeln kann, ohne dabei jedoch mit Gewissheit sagen zu können, wie der weitere Storyverlauf aussehen muss.
Deutschland auf internationalem Parkett
Für das deutsche Publikum gibt es besonders viele nette Elemente. Einige der Handlungen spielen in Berlin und zeigen sowohl touristische Orte als auch beispielsweise die beliebte Eventlocation „Kraftwerk Berlin“. Große Teile der Handlung wurden zudem in Babelsberg oder auch auf dem stillgelegten Flughafen Tegel gedreht. Als kleine Krönung bekommt auch die Berghain Türsteherikone und Fotograf Sven Marquardt, der zuvor in SCHÖNHEIT & VERGÄNGLICHKEIT portraitiert wurde, einen kleinen Auftritt und sorgt für Begeisterung unter den Zuschauenden. Bei der Deutschlandpremiere sind die Zuschauenden gleich mehrfach in Jubel ausgebrochen. Gefühlt alle 15 Minuten gab es einen Applaus für überragende Inszenierungen, Choreografien, Cameoauftritte oder amüsante Konversationen.
Wie eh und je lebt JOHN WICK: KAPITEL 4 von der fantastischen Besetzung. Während Reeves, McShane, Reddick und Fishburne gewohnt souverän durch die Widrigkeiten dieses Films manövrieren, reiht sich vor allem Actionikone und Kampfkünstler Donnie Yen in den namhaften Cast ein. Als blinder Profikiller überzeugt er auf allen Ebenen und liefert uns ein ausgewogenes Schauspiel zwischen blinder Hilflosigkeit und kämpferischer Perfektion. Über den gesamten Streifen hinweg versucht sich der gebürtige Chinese mittels akustischer Signale durch die Handlung zu mogeln, was immer wieder auch etwas unbeholfen wirkt, aber dadurch auch die Authentizität steigert. Facettenreich bewegt sich die Figur auf einem schmalen Grat zwischen Freund und Feind. Auch Bill Skarsgård wirkt anfangs etwas fehlbesetzt, entwickelt aber mit der Zeit eine ekelhaft sadistische Art, die ihn auch ohne nennenswerte kämpferische Fähigkeiten zu einem würdigen Antagonisten heranwachsen lässt.
Hundeliebe ist zurück
Shamier Anderson bringt zusammen mit seinem belgischen Malinois (ein belgischer Schäferhund) eine I AM LEGEND Attitüde in den Film ein, die dieser Fortsetzung noch einmal einen ganz neuen Charakter verschafft. Generell haben Hunde bekanntlich eine wichtige Bedeutung in der gesamten Filmreihe, welche auch hier wohl nuanciert Einfluss findet. Frauen dienen auch diesmal lediglich zur anschaulichen Ausstaffierung und werden eher in ein erotisches Bild gepresst anstatt auf angemessener Ebene zu agieren. So tritt als Kämpferin lediglich Rina Sawayama in Erscheinung, deren Figur sich zwischen Marvels BLACK WIDOW und Katniss Everdeen aus TRIBUTE VON PANEM ansiedelt. Der kleine Gastauftritt von Natalia Tena ist genauso kurz wie unbedeutend, auch wenn sie als russische Rädelsführerin eine begeisternde Macht und Selbstsicherheit ausstrahlt.
Das absolute Highlight in den 169 Minuten sind jedoch die Sets und die Kamera. Während viele Sequenzen in der Dunkelheit spielen und dennoch so gut ausgeleuchtet sind, dass das Bild nie zu düster wirkt, werden viele Szenen diesmal auch ins Licht der auf- oder untergehenden Sonne getaucht. Neonlichter, Effektleuchten und Clublaser erzeugen eine homogene, wenn auch teilweise irrwitzige Ausleuchtung, die den Orten eine gewisse Erhabenheit verleihen, zugleich aber auch fehl am Platz wirken. Mehrere Choreographien werden darüber hinaus in kurzen Plansequenzen dargestellt, wodurch die praktischen Effekte und Stunts massiv an Bedeutung gewinnen. Gekrönt wird dies von einem schnittlosen God’s eye Shot, der entgegen der sonst eher tief positionierten Kamera, zwischenzeitlich einmal einen kompletten neuen Blickwinkel einbringt. Mit einem eher eintönigen und hintergründigen Score wird das Publikum hypnotisch auf das Leinwandgeschehen fokussiert.
Realismus in einer karikativen Welt
Bemerkenswert ist vor allem, wie Chad Stahelski penibel darauf achtet, dass in all den übernatürlichen Realitätsdarstellungen gewisse Feinheiten dennoch stets eingehalten werden. So gibt es viele Szenen in denen wir sehen, wie der Cast leere Magazine austauscht, Waffen vom Boden einsammelt, sich bewusst schützt, auch wenn womöglich gar keine direkte Gefahr besteht, und vor allem menschlich reagiert. Alles hat seine Sinnigkeit und nichts wird dem Zufall überlassen. Szenen wie diese werden, um Zeit zu sparen, üblicherweise herausgeschnitten, während Stahelski gnadenlos an ihnen festhält und damit eine ganz eigene Form der Realdarstellung kreiert.
Fazit
Mit einem womöglich noch höheren Bodycount als je zuvor, ist JOHN WICK: KAPITEL 4 die Fortsetzung, die sich das Publikum wünscht. Hochgradig professionelle Stunts, einfallsreiche Kampfgeschehen, abwechslungsreiche Settings, mühevolle Kamerafahrten und -flüge, ein einnehmender und mitreißender Cast, eine mit den vorherigen Teilen homogene Handlung und Gags, die nicht dem albernen US-Klischeejoke entsprechen, sondern wirklich die Lachmuskeln beanspruchen, sind Teil dieses Leinwandphänomens. Selbst die Augen bleiben nicht ganz trocken, während ein Mindestmaß an Emotionen ausgespielt wird. Dadurch entsteht mindestens einer der besten Filme der Reihe, wenn nicht sogar der beste Film. Angesichts der ohnehin schon umjubelten Stellung dieser Actionfilme, mutiert Keanu Reeves neben Tom Cruise zum wohl letzten großen Actionhelden in einer Welt, in der wir künftig noch viel mehr kennen lernen wollen. Final bleibt nur noch zu erwähnen, dass Fans definitiv sitzen bleiben sollten, denn erst die Abspannsequenz rundet diesen brillanten Streifen komplett ab.
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Langreview English Version Fakten & Credits
Originaltitel | John Wick: Chapter 4 |
Kinostart | 22.3.2023 |
Länge: | 169 minuten |
Produktionsland | Germany |
Genre: | Action | Thriller | Krimi |
Regie | Chad Stahelski |
Executive Producer | Louise Rosner-Meyer | Keanu Reeves | David Leitch | Michael Paseornek |
Producer | Chad Stahelski | Christoph Fisser | Charlie Woebcken | Henning Molfenter | Erica Lee | Basil Iwanyk |
Kamera | Dan Laustsen |
Visual Effects | Jonathan Rothbart | Janelle Croshaw Ralla |
Musik | Tyler Bates | Joel J. Richard |
Cast | Keanu Reeves, Donnie Yen, Bill Skarsgård, Ian McShane, Laurence Fishburne, Lance Reddick, Clancy Brown, Hiroyuki Sanada, Rina Sawayama, Scott Adkins, Aimée Kwan, Marko Zaror, Natalia Tena, Shamier Anderson, George Georgiou, Yoshinori Tashiro, Hiroki Sumi, Daiki Suzuki, Julia Asuka Riedl, Milena Rendón |
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