Schwarz-Weiß-Filme haben das Kino begründet. Bevor es Filme mit Farbe gab, war es selbstverständlich, die Streifen lediglich in Schwarz und Weiß zu sehen. Doch der Film ist ein Medium, das sich ständig weiterentwickelt. Erst kam der Ton, dann die Farbe, die Bilder wurden immer schärfer, Filmrollen wurden durch digitale Kameras ersetzt und heute werden ganze Welten digital am Computer erschaffen. Trotzdem gibt es immer wieder Filme, die auf Farbe verzichten. Dabei handelt es sich heutzutage um kreative Entscheidungen der Regisseure. In THE ARTIST von Michael Hazanavicus oder MANK von David Fincher wurde uns die Anfangszeit des Kinos stilecht ohne Farbe präsentiert. In SIN CITY von Robert Rodriguez wurde sich an die Farbgebung der Comicvorlage gehalten. Nun geht auch ein Film aus Hongkong einen ähnlichen Weg. In LIMBO von Regisseur Soi Cheang werden wir in bester Neo-Noir-Manier in eine regnerische Welt geworfen, in der ein Serienkiller sein Unwesen treibt.
Darum geht es…
Es sind bereits zwei Frauenleichen aufgetaucht. Beide werden in der Gosse gefunden, und beiden fehlt eine Hand. Die Polizisten Cham Lau (Gordon Lam) und Will Yan (Mason Lee) beginnen gemeinsam mit den Ermittlungen. Während einer Befragung entdeckt Cham Lau die junge Frau Wong To (Cya Liu) und beginnt, ihr zu folgen. Sie ist gerade aus dem Gefängnis freigekommen und versucht, sich als Kleinkriminelle über Wasser zu halten. Dabei hat sie die Rechnung ohne Cham Lau gemacht, der Polizist beginnt die Frau zu jagen. Er hat sich geschworen, der Verbrecherin das Leben zur Hölle zu machen, sobald sie freikommt, denn sie hat unter Drogeneinfluss Cham Laus Frau überfahren, die seitdem im Wachkoma liegt. Sie bietet den Polizisten jedoch an, als Informantin zu helfen, da sie seit dem Unfall von Alpträumen geplagt wird. So beginnen die drei eine Suche durch die kriminelle Unterwelt, während immer mehr Frauenleichen auftauchen.
Rezension:
Ihr habt viel zu gute Laune und wollt mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren? Dann könnte LIMBO genau der richtige Film sein. Regisseur Soi Cheang erzählt in seinem Film eine genauso düstere wie mitreißende Geschichte, die uns immer wieder Schläge in die Magengrube versetzt. Der Film präsentiert uns spannende Figuren und eine schmutzige Welt. Dabei geht er erst einmal einen sehr klassischen Weg. Uns begegnen zwei Ermittler, die an unterschiedlichen Punkten ihrer Karriere stehen. Während Cham Lau schon vieles gesehen hat und durch seine Trauer vollkommen gleichgültig geworden ist, ist Will Yam gerade neu bei der Polizei und möchte mit seiner Arbeit für eine bessere Welt sorgen. Der Fokus liegt dabei klar auf Cham Lau. Diese Freiheit hat sich der Regisseur genommen, denn eigentlich basiert LIMBO auf dem Roman “Wisdom Tooth” von Lei Mi, in dem Will Yam die zentrale Hauptfigur ist.
Der Grund, warum Soi Cheang einen anderen Weg geht, ist die Beziehung zwischen Cham Lau und Wong To, die er hier in den Fokus rücken wollte. Als die beiden sich nach ihrer verbüßten Haftstrafe zum ersten Mal begegnen, ist der Polizist voller Hass. Es kümmert ihn nicht, wenn er die Frau quält. Währenddessen sucht sie immer wieder die Nähe von Cham Lau, um Buße zu tu, denn sie glaubt, dass sie das Leid verdient hat, das er ihr ständig zufügt. Beide Darsteller*innen liefern hier eine ausgezeichnete Leistung ab. Gordon Lam verkörpert den Ermittler voller Wut und Frustration über die Ungerechtigkeit, die seiner Frau widerfahren ist. Noch beeindruckender ist jedoch die Glanzleistung von Cya Liu. Die Schauspielerin verleiht ihrer Figur Schmerz und Trauer. Sie wird immer wieder in Extremsituationen geworfen und gibt dabei alles. Durch ihr großartiges Schauspiel bricht sie einem regelrecht das Herz.
Die Ästhetik des Chaos
Natürlich müssen wir noch über den Elefanten im Raum sprechen: den besonderen visuellen Stil des Films. Oberflächlich betrachtet handelt es sich bei LIMBO um einen Schwarz-Weiß-Film. Wenn man jedoch genauer hinsieht, wird man feststellen, dass der visuelle Stil nur wenig mit den Filmen aus dem frühen 20. Jahrhundert gemeinsam hat. Soi Cheang präsentiert uns in seinem Film einerseits gestochen scharfe Bilder der Skyline und andererseits das Chaos in den Slums der Stadt. Obwohl wir viel Müll sehen, scheinen die Bilder einer gewissen Ordnung zu folgen. Durch die bewusste Wahl der Schwarz-Weiß-Bilder verdeutlicht er einerseits das Seelenleben der Figuren und andererseits präsentiert er uns mit den deutlichen Kontrasten den Unterschied zwischen Arm und Reich. Darüber hinaus erzeugt LIMBO das Gefühl, als wäre die Großstadt ein lebendiges Wesen, das bestimmten Regeln folgt.
Auf der Meta-Ebene kritisiert LIMBO zum einen unsere Wegwerfgesellschaft. Wir sehen tonnenweise Müll, der sich an den Rändern der Stadt ansammelt. Zudem zeigt er uns auf überspitzte Weise den “menschlichen Abfall”, der sich zwischen all den Müllsäcken befindet. Wir sehen diejenigen, die von unserer Gesellschaft ausgestoßen wurden: psychisch Kranke, Kriminelle, Drogensüchtige, die durch einige falsche Entscheidungen in ihrem Leben auf der Straße gelandet sind. Nun sind sie für uns unsichtbar. Genau mit diesem Bild spielt der Regisseur. Er führt uns vor Augen, dass jeden Tag obdachlose Menschen auf der Straße sterben und es scheint niemanden zu interessieren.
Fazit:
LIMBO ist ein herausragender düsterer Krimi, der uns in eine finstere Welt entführt. Wir sehen zwar keine sympathischen Helden, dafür jedoch nachvollziehbare Menschen, die mit ihren eigenen Dämonen kämpfen. Durch den wunderschönen visuellen Stil wird LIMBO zu einem Augenschmaus. Selten wurde in der Filmgeschichte eine solche Ästhetik bei der Darstellung von Müllbergen erzeugt. Das Highlight des Films sind zweifellos die großartigen Darsteller*innen, die ihre gesamte Energie in ihre Rollen stecken. LIMBO von Soi Cheang sollte man keinesfalls verpassen.
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Originaltitel | 智齒 |
Kinostart | 18.11.2021 |
Länge: | 118 minuten |
Produktionsland | China |
Genre: | Thriller | Krimi |
Regie | 鄭保瑞 |
Producer | Jiang Defu | Stanley Tong | Kevin Tse | Paco Wong Pak-Go | 葉偉信 |
Kamera | Cheng Siu-keung |
Musik | Kenji Kawai |
Cast | 林家棟, Liu Yase, Mason Lee, 池内博之, Sammy Sum Chun-Hin, Fish Liew, Hanna Chan, Kumer So, Hugo Ng, Iris Lam, Yuk-Fong Cheung, Johnny Hui, 梁卓美 |
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