Wenn von asiatischen Ländern gesprochen wird, dann zählt Myanmar häufig nicht zu den ersten Ländern, die in den Gedanken rumschwirren. Japan, Indien und China sind auf Grund ihrer Population und Wirtschaftskraft international wesentlich bedeutender. Dennoch sollte man dieses Land nicht unterschätzen, denn mit rund 54 Millionen Einwohnern und einer Fläche von über 650.000 km² (zum Vergleich: Deutschland hat rund 350.000 km²) ist es durchaus ein bedeutender Teil Süd-Ost-Asiens. Das Problem ist jedoch, dass das Land unter einer Militärdiktatur leidet, die 1962, als das Land noch Burma hieß, begann und bis 2010 andauerte. In diesem Zeitraum gründete sich bereits die NLD-Partei (Nationale Liga für Demokratie), die sich, wie es der Name schon suggeriert, für die Änderung der Regierungsform in eine Republik einsetzte. Diese wurde jedoch lange Zeit unterdrückt und legitime Wahlen verhindert oder gar entsprechende Ergebnisse aberkannt.
Im vergangenen Jahrzehnt wurden diese Strukturen etwas aufgelockert und erstmalig seit langer Zeit wurden wieder Wahlen veranstaltet, die eine gewisse demokratische Grundordnung ausstrahlten, auch wenn sie teilweise große Bevölkerungsgruppen ausschlossen. Die vergangenen Legislaturperioden schienen dieses Problem jedoch zunehmend abschaffen zu wollen. So kam es bei den Wahlen im November 2020 dazu, dass Aung Suu Kyi als stolze Wahlsiegerin hervorging und mit ihrer Partei selbstständig hätte regieren können. Das Militär hingegen bezeichnete die Wahlen als betrügerisch, und so fand erneut ein Putsch statt, welcher den Machterhalt für die Truppenführung sicherte. Eine Militärdiktatur stellt dabei eine klassische Diktatur dar, in der jedoch kein einzelner Diktator herrscht, sondern die militärische Führung. Sowohl Medien, Politik als auch die Gesellschaft an sich werden von dieser kontrolliert. Bis heute hat sich an dieser Situation nichts geändert, doch Bürgermilizen entwickelten Versuche eines Volksaufstandes, um die Herstellung der Demokratie wieder einzuleiten.
Darum geht es…
MYANMAR DIARIES ist nun ein Zusammenschnitt von vielen Erlebnissen und Eindrücken mitten aus dieser Diktatur heraus. Aus Sorge um das eigene Leben und die eigene Freiheit bleibt das Filmteam unbenannt, doch es ist davon auszugehen, dass dies eine Sammlung von Aufnahmen von ganz normalen Bürgern des Landes ist, die nicht zielgerichtet, sondern eher alltäglich angespannte Situationen aufgezeichnet hat. Wir sehen sowohl militärische Angriffe als auch Entscheidungsprozesse und Erfahrungen von privaten Personen des Landes. Dabei ist jedoch schwer zu sagen, ob es sich hierbei um eine Vielzahl von Menschen handelt, die die Aufnahmen getätigt haben oder diese im Wesentlichen von einem zentralen Filmteam stammen.
Rezension
Dieser Film zeigt mal wieder, wie gut es uns in Deutschland doch eigentlich geht, wo wir frei sagen können, was wir wollen, wo wir hingehen können, wohin wir wollen, wo wir machen können, was wir wollen. MYANMAR DIARIES bietet uns erschreckende Bilder, die weit über die übliche Berichterstattung in den Nachrichten hinaus geht und Alltagssituationen zeigt, die oftmals nur schwer fassbar sind. Insbesondere die Verzweiflung der Menschen wird massiv in den Mittelpunkt gerückt und uns in mehreren Facetten präsentiert. Es ist schrecklich, einen Vater zu sehen, der sein totes ca. 10-jähriges Kind betrauert oder Hausbewohner, die beobachten müssen, wie Menschen auf der Straße erschossen werden. Besonders gut gelingt es dem Produktionsteam, die Nähe zum Publikum zu finden, dadurch, dass eben Dinge gezeigt werden, die in einer ganz normalen Stadt an einem ganz normalen Tag geschehen. Dinge, die wir auch vor der eigenen Haustür erleben könnten, wenn einmal die Stimmung kippt.
Nicht oft, aber gelegentlich arbeitet der Film mit Sinnbildern und animierten Einschüben. Diese erzeugen eine gewisse Verallgemeinerung und lassen es zu, dass wir uns in die Emotionen der betroffenen Personen hineinversetzen können. So zum Beispiel die Raupe, die sich zum Schmetterling entwickeln möchte, dies jedoch niemals eintreten wird. Diese Persönlichkeit und die ungefilterte Übertragung von Ereignissen aus einem Krisengebiet, welches jetzt gerade genau so existiert, wirkt sich äußerst schockierend und atemraubend auf das Publikum aus. Viele Aufnahmen wurden mittels einfacher Handykamera gemacht, was auch deutlich an der Qualität sowie dem Bildformat erkenntlich wird. Zwischendurch gibt es jedoch auch Aufnahmen, die deutlich professioneller wirken und womöglich sogar ein wenig geplant entstanden sind.
Grausam und erschütternd
So weit, so gut, doch wäre eine unkritische Betrachtung dieses Materials recht fahrlässig, wie ich finde. Bevor ich diesen Abschnitt einleite, möchte ich zwingend darauf aufmerksam machen, dass mir die Gesamtthematik in Myanmar bewusst ist und die folgenden kritischen Hinterfragungen nicht das Leid vieler Menschen vor Ort herabsetzen sollen. Es ist und bleibt unverzeihlich, dass Menschen, insbesondere Kinder, den Tod durch Waffen finden und es mittlerweile (Stand 12. April 2021) 707 tote Zivilisten dort gibt.[1] Daraus folgend ist es auch vollkommen verständlich, dass diese Sammlung von Eindrücken keiner exakten dokumentarischen Aufarbeitung unterzogen werden konnte und es für das Filmteam ein unglaubliches Risiko darstellt, ein solches Werk überhaupt zu veröffentlichen. Dem zolle ich aller höchsten Respekt.
Dennoch bieten viele Szenen gewisse Probleme, die ein verdammt schlechtes Bild auf das Werk werfen. MYANMAR DIARIES gleicht einer einstündigen abendlichen Tiktok-Sichtung, in der die Konsumenten mit einer umfassenden Videosichtung bombardiert werden, die völlig aus jedem Zusammenhang gerissen sind. Es ist unglaublich leicht eingefangene Bilder einerseits zu manipulieren, andererseits aber auch einfach komplett in einen anderen Kontext zu setzen. Hiermit werfe ich dem Filmteam nicht vor, dies getan zu haben, sondern möchte darauf aufmerksam machen, dass auch dieses Material kritisch zu begutachten ist.
Welche Intention verbirgt sich hinter MYANMAR DIARIES?
So sehen wir eine Szene, in der eine Frau in ihrem Haus vom Militär aufgesucht wird. Das Kind der Frau schreit verbittert und erzeugt massiv Emotionen beim Publikum. Drumherum stehen Menschen, die die Situation filmen. Das Militär wendet keine Gewalt an und steht in einem Dialog mit der Frau, die sich vor der Festnahme wehren möchte. In Anbetracht der lokalen Lage ist davon auszugehen, dass das Militär unrechtmäßig handelt und dieses Video soll auch genau dies dem Publikum suggerieren. Doch wir kennen keinerlei Quellen dieser Sequenz und wissen nicht, warum die Szene so geschehen ist. Es wird nicht aufgeklärt, ob die Frau etwas getan hat, was sie getan hat, warum das Militär gerade sie aufsucht und nicht die Leute drumherum festnimmt. Würde am Ende der Szene stehen, dass die Frau, die wir nicht einmal zu sehen bekommen, einen kleinen Jungen vergewaltigt hätte, wären die Publikumssympathien sofort beim Militär.
Polarisierende Aufzeichnungen oder trauriger Ernst?
Diese Art von Aufnahmen gibt es mehrfach, auch wenn sie immer wieder ergänzt werden durch gewalttätige und zerstörerische Sequenzen. China beweist zum Beispiel, dass in der Medienführung ein tragisches Ereignis, welches mit einem positiven Ausgleich kombiniert wird, extrem manipulativ wirken kann. Als äußerst provokative Frage: Warum sollten sich die Bürger Myanmars nicht auch dieser Methodik annehmen, um damit zu polarisieren und den Hass auf die Militärkräfte zu schüren? Diese Annahme wird leider recht deutlich unterstrichen durch eine Szene, in der eine Szene, in der eine Frau ihrem Freund eine Schwangerschaft mitteilen möchte, in einer neuen Chatkonversation, in welcher zuvor keine Nachrichten existierten. Beim Abbruch dieser Nachricht wird sie zufälligerweise Sekunden später angerufen. Auch bei einem persönlichen Treffen mit dem vermeintlichen Vater wird sie genau in dem Moment durch einen entscheidenden Anruf unterbrochen, als sie die Nachricht verkünden will. Filmreife Dramaturgie?!
Diese ganze Szene soll eigentlich auf eine ganz andere Aussage hinauslaufen, ist im Grund jedoch vollkommen überflüssig. Egal, ob sie nun gestellt ist oder nicht – was jedoch recht deutlich so wirkt – sie wirkt sich nicht positiv auf die Gesamtintention des Films aus, da spätestens hiermit die Tür aufgestoßen wird, kritisch zu hinterfragen, welche Intention des Filmteams tatsächlich hinter diesem gesamten Werk steckt. Hiermit mache ich aber noch einmal deutlich, dass dies ein sehr schwieriges Thema ist und dieser Film mit Sicherheit nicht die Absicht hat, hier Augenwischerei in irgendeiner Form zu betreiben, doch ist es dem Konsumenten einfach nicht möglich, diesen Film sorgenfrei Glauben zu schenken.
Fazit
Ein großes Fazit kann ich an dieser Stelle gar nicht bringen, da das Werk durchaus politisch äußerst brisante Themen bringt und uns einen erschreckenden Einblick in das Geschehen auf der anderen Seite der Welt gibt. Da der Film jedoch nicht gänzlich neutral in einen dokumentarischen Kontext gesetzt werden kann, ist es mir leider nicht möglich diesem Film den eigentlich verdienten Daumen nach oben zu geben, sondern ich muss mich absolut jeglicher Wertung enthalten. Eine Sichtung ist MYANMAR DIARIES dennoch wert, denn Diskussionsstoff gibt es auf jeden Fall reichlich.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Die militärische Revolte in Myanmar haben 2021 die ganze Welt bewegt. Gerade als es so aussah, dass die Demokratie sich in diesem Land durchsetzen könne, schlägt die Militärdiktatur mit voller Kraft wieder zu und kostet hunderten Zivilisten das Leben. MYANMAR DIARIES ist nun ein Zusammenschnitt von einem unbekannten Filmteam, welches eben jene Katastrophe aus der Perspektive der unterdrückten Bevölkerung zeigt. Grundsätzlich hat mich der Film sehr in seinen Bann gezogen und mich atemlos zurückgelassen, denn es ist einfach schockierend, was uns hier präsentiert wird. Dennoch muss ich dem Film einen großen Makel zusprechen, der aus dem Konflikt folgt, dass die Produzenten sich nicht offenbaren können, um ihr eigenes Leben zu schützen. Viele der Sequenzen sind aus einem Gesamtkontext komplett herausgerissen, beziehungsweise lassen sie zumindest die Frage offen, ob es noch einen Gesamtkontext gibt. Es gibt für uns als Publikum leider absolute keine Möglichkeiten zu recherchieren, ob an diesen Szenen so geschnitten wurde, dass sie polarisieren oder ob sie tatsächlich die Realität widerspiegeln. Letzteres ist angesichts der lokalen Probleme ganz klar anzunehmen, kann aber nicht endgültig validiert werden.
Ich bin somit leider sehr zwiegespalten und finde den Film im Kern großartig und muss das Filmteam auch für den Mut und die grundlegende journalistische Aufarbeitung unter den Konditionen sehr loben, kann aber in Hinblick auf die Fragwürdigkeit keinerlei Wertung abgeben. Schaut ihn euch an, und ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion!
Wie hat Dir der Film gefallen?
When people talk about Asian countries, Myanmar is often not among the first countries that come to mind. Japan, India and China are much more important internationally due to their population and economic power. Nevertheless, one should not underestimate this country, because with about 54 million inhabitants and an area of more than 650,000 km² (for comparison: Germany has about 350,000 km²), it is definitely an important part of South-East Asia. The problem, however, is that the country suffers from a military dictatorship that began in 1962, when the country was still called Burma, and lasted until 2010. During this period, the NLD party (National League for Democracy) was already founded, which, as its name suggests, campaigned to change the form of government to a republic. However, this was suppressed for a long time and legitimate elections were prevented or even corresponding results were disallowed.
In the past decade, these structures were loosened somewhat and, for the first time in a long time, elections were held again that radiated a certain basic democratic order, even if they sometimes excluded large sections of the population. However, the past legislative periods seemed increasingly to want to do away with this problem. Thus, in the November 2020 elections, Aung Suu Kyi emerged as the proud winner and could have ruled independently with her party. The military, on the other hand, called the elections fraudulent, and so another coup took place, which ensured the retention of power for the military leadership. A military dictatorship is a classic dictatorship in which, however, no single dictator rules, but the military leadership. Media, politics as well as society itself are controlled by the military. Until today, nothing has changed in this situation, but citizen militias developed attempts of a popular uprising to reintroduce the establishment of democracy.
This is what it is all about…
MYANMAR DIARIES is now a compilation of many experiences and impressions from the midst of this dictatorship. Out of concern for their own lives and freedom, the film team remains unnamed, but it can be assumed that this is a collection of footage of ordinary citizens of the country who have not purposefully recorded tense situations, but rather everyday situations. We see military attacks as well as decision-making processes and experiences of private individuals in the country. However, it is difficult to tell whether this is a multitude of people who have made the recordings or whether they are essentially the work of a central film crew.
Review
This film shows once again how well we are actually doing in Germany, where we can freely say what we want, go where we want, do what we want. MYANMAR DIARIES offers us frightening images that go far beyond the usual news coverage and show everyday situations that are often difficult to grasp. In particular, the desperation of the people is massively brought into focus and presented to us in several facets. It is horrible to see a father mourning his dead approximately 10-year-old child or house residents who have to watch people being shot in the street. The production team succeeds particularly well in getting close to the audience by showing things that happen in a normal city on a normal day. Things that we could also experience on our own doorstep if the mood were to change.
Not often, but occasionally, the film works with allegories and animated inserts. These create a certain generalisation and allow us to empathise with the emotions of the people involved. For example, the caterpillar that wants to develop into a butterfly, but this will never happen. This personality and the unfiltered transmission of events from a crisis area, which exists right now, has an extremely shocking and breath-taking effect on the audience. Many shots were taken with a simple mobile phone camera, which is also clearly recognisable in the quality as well as the picture format. In between, however, there are also shots that seem much more professional and may even have been planned a little.
Cruel and shocking
So far, so good, but an uncritical view of this material would be rather negligent, in my opinion. Before I begin this section, I would like to make it absolutely clear that I am aware of the overall situation in Myanmar and that the following critical comments are not intended to belittle the suffering of many people on the ground. It is and remains unforgivable that people, especially children, are being killed by weapons and that there are now (as of 12 April 2021) 707 dead civilians there.[1] Consequently, it is also completely understandable that this collection of impressions could not be subjected to an exact documentary processing and that it is an unbelievable risk for the film team to publish such a work at all. I have the highest respect for this.
Nevertheless, many scenes offer certain problems that paint a damning picture of the work. MYANMAR DIARIES is akin to an hour-long evening Tiktok viewing, where consumers are bombarded with a comprehensive video sighting that is completely out of context. It is incredibly easy to manipulate captured images on the one hand, but on the other hand to simply place them completely in a different context. I am not accusing the film team of doing this, but I would like to point out that this material should also be examined critically.
What is the intention behind MYANMAR DIARIES?
For example, we see a scene in which a woman is visited by the military in her house. The woman’s child cries bitterly and generates massive emotions in the audience. People are standing around filming the situation. The military does not use force and engages in a dialogue with the woman, who tries to defend herself before being arrested. Considering the local situation, it can be assumed that the military is acting unlawfully and this video is meant to suggest exactly that to the audience. But we do not know any sources of this sequence and why the scene happened this way. It is not elucidated whether the woman did something she did, why the military sought her out in particular and did not arrest the people around her. If it were stated at the end of the scene that the woman, whom we don’t even get to see, had raped a little boy, audience sympathies would immediately be with the military.
Polarising recordings or sad seriousness?
This kind of footage exists several times, even if it is always complemented by violent and destructive sequences. China, for example, proves that in media management a tragic event combined with a positive balance can be extremely manipulative. As an extremely provocative question, why would the citizens of Myanmar not also adopt this methodology to polarise and fuel hatred of the military forces? This assumption is unfortunately underlined quite clearly by a scene in which a woman wants to tell her boyfriend about a pregnancy, in a new chat conversation in which no messages existed before. Upon breaking off this message, she happens to be called seconds later. Also, during a face-to-face meeting with the supposed father, she is interrupted by a crucial phone call at the very moment she is about to announce the news. Cinematic dramaturgy?!
This whole scene is actually meant to make a completely different statement, but is in fact completely superfluous. Regardless of whether it is staged or not – which it clearly seems to be – it does not have a positive effect on the overall intention of the film, because at the latest this opens the door to critically questioning the intention of the film team behind this entire work. Here I make it clear once again that this is a very difficult subject and this film certainly does not intend to engage in any form of window dressing, but it is simply not possible for the consumer to believe this film without worry.
Conclusion
I can’t give a great conclusion at this point, as the work certainly brings up politically extremely explosive topics and gives us a frightening insight into what is happening on the other side of the world. However, since the film cannot be placed in a completely neutral documentary context, it is unfortunately not possible for me to give this film the thumbs-up it deserves, but I must refrain from giving it any rating whatsoever. MYANMAR DIARIES is nevertheless worth a viewing, because there is definitely plenty to discuss.
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Originaltitel | Myanmar Diaries |
Berlinale – Release | 13.02.2022 |
Berlinale – Sektion | Panorama |
Länge | ca. 70 Minuten |
Produktionsland | Myanmar | Niederlande | Norwegen |
Genre | Dokumentation |
Verleih | unbekannt |
FSK | unbekannt |
Regie | The Myanmar Film Collective |
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