Hexen sind vermutlich die bekanntesten Sagengestalten der europäischen Folklore. Seit Jahrhunderten erzählt man Kindern Geschichten über unheimliche Frauen, die nur darauf warten, das nächste Opfer in den Ofen zu schieben. Leider hat die Geschichte der Menschheit gezeigt, dass fiktive Erzählungen gerne mal zu ernst genommen werden, sodass es im Mittelalter regelmäßig zu Hexenjagden gekommen ist. Scheinbar andersartige Frauen wurden von der Bevölkerung argwöhnisch beäugt, bis sie dann irgendwann brutal gefoltert und umgebracht wurden. Auch heute gibt es noch religiöse Fundamentalisten, die psychisch Kranke mit Exorzismen quälen oder an Hexen glauben. Dieses Thema hat sich die slowakische Regisseurin Tereza Nvotová als Grundlage genommen, um eine eigene Geschichte zu erzählen. In ihrem Mystery-Thriller NIGHTSIREN wird eine junge Frau zum Opfer einer wahrhaftigen Hexenjagd.
Darum geht es…
Charlotta (Natália Germani) hat ihre ersten Lebensjahre in einem kleinen Dorf verbracht. Sie war das Opfer einer gewalttätigen Mutter und wollte sich ihren Schlägen irgendwann nicht mehr unterordnen. Als es eines Tages zu einem verheerenden Unfall kommt, beschließt das junge Mädchen zu fliehen. Im Erwachsenenalter kehrt Charlotta zurück, nachdem sie einen Brief vom Bürgermeister erhalten hat. Die Erbschaftsangelegenheiten sollen geklärt werden. Doch als sie versucht, den Bürgermeister aufzusuchen, muss sie feststellen, dass er aktuell verreist ist. So beschließt sie vorerst im Dorf zu bleiben. Dadurch lernt sie die Dorfbewohner*innen erneut kennen, die ihr allerdings argwöhnisch gegenüberstehen. Schon Charlottas Mutter wurde von der Dorfgemeinschaft kritisch beäugt. Die Einzige, die zu Charlotta hält, ist Mira (Eva Mores). Die beiden Frauen freunden sich an und verbringen viel Zeit in der Hütte im Wald. Währenddessen entstehen immer mehr Gerüchte um die beiden Frauen. Sind die Hexen zurückgekehrt?
Rezension:
Wer selbst schon einmal einige Jahre in einem kleinen Dorf gelebt hat, wird das Gefühl vermutlich kennen, das in NIGHTSIREN beschrieben wird. Die Bewohner*innen nehmen jede Kleinigkeit zum Anlass, um Geschichten über ihre Mitmenschen zu erfinden. Steht die Mülltonne einen Zentimeter zu nah an der Straße? Bestimmt gibt es Probleme bei Familie Müller, vielleicht lassen sie sich bald scheiden. Tereza Nvotová fängt dieses Gefühl auf sehr geschickte Weise in NIGHTSIREN ein. Der Film treibt dieses Phänomen zwar etwas auf die Spitze, schafft es jedoch gleichzeitig, ein Statement gegen Hexenjagden abzugeben. Der Film greift das Thema der Hexenjagd auf und bietet verschiedene Ansätze, die zum Interpretieren einladen. Neben der Kritik am Spießbürgertum nimmt der Film ebenfalls die digitale Welt ins Visier, in der Anonymität dem Hass eine völlig neue Dimension verleiht. Der Film führt uns die Absurdität und Undifferenziertheit vor Augen, mit der heutzutage Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden.
Obwohl man bei der Thematik auf den ersten Blick einen Horrorfilm erwarten würde, handelt es sich bei NIGHTSIREN um einen spannenden Mystery-Thriller, der mit seiner Ästhetik an düstere skandinavische Krimis erinnert. Der Film beginnt mit düsteren Aufnahmen des Waldes, begleitet von reduzierter Musik. Ein großer Teil des Soundtracks besteht aus finsteren Klängen von traditionellen Flöten, die uns ein unheimliches Folk-Horror-Gefühl vermitteln. Die Farben sind dabei entsättigt und präsentieren uns eine scheinbar trostlose Welt, in der die Menschen nicht bereit sind, sich weiterzuentwickeln. NIGHTSIREN verdeutlicht uns durch seine audiovisuelle Gestaltung schnell, dass wir uns in einer sehr religiösen und vor allem konservativen Welt befinden. Hier bleibt man noch bei einem gewalttätigen Ehemann, solange er Essen auf den Tisch bringt. Ein weiteres Thema, das durch die Bildsprache eröffnet wird, ist die Entfremdung des Menschen von der Natur. Die Menschen unterwerfen sich fiktiven Zwängen, anstatt einen eigenen Weg zu gehen.
Zu viele spannende Ansätze?
Man erkennt schnell, dass NIGHTSIREN viele interessante Themen anspricht, allerdings stellt dies auch das große Problem des Films dar. Neben den oben genannten Themen werden auch der Kinderwunsch einer Frau und frühkindliche Traumata thematisiert. Tereza Nvotová schafft es kaum, all diesen Themen gerecht zu werden. Stattdessen werden einige Ideen nur oberflächlich behandelt, ohne tiefer darauf einzugehen. Durch den Versuch, viele Themen in den Film einzubinden, leidet die Handlung von NIGHTSIREN. Die Freundschaft zwischen Mira und Charlotta entsteht mehr oder weniger aus dem Nichts, ebenso wie eine Liebesbeziehung von Charlotta. Oft werden wir in neue Szenarien geworfen, ohne dass sich die Figuren in die entsprechende Richtung entwickeln. Besonders die Liebesbeziehung, in die Charlotta sich begibt, wirkt fehl am Platz, wenn man die seelischen und körperlichen Narben der Hauptfigur berücksichtigt. Tereza Nvotová verliert sich mehr in ihrem eigenen künstlerischen Anspruch, anstatt sich auf eine zusammenhängende Geschichte zu konzentrieren. Gerade im Mittelteil hat man das Gefühl, dass sich die Handlung im Kreis dreht.
Trotzdem leisten die Darsteller*innen einen großartigen Job und man möchte unbedingt herausfinden, was es mit dem Dorf und den Bewohner*innen auf sich hat. Was ist mit Charlottas Mutter geschehen? Wer ist Mira? Was hat Charlotta all die Jahre getan? NIGHTSIREN stellt diese Fragen auf und führt sie alle zu einem befriedigenden Ende. Man erwischt sich immer wieder beim Miträtseln und wird mit zufriedenstellenden Antworten belohnt. Leider gibt es hier jedoch auch etwas zu kritisieren, denn der große “Twist” des Films ist meilenweit voraussehbar. Nichtsdestotrotz bleibt man in die Figuren investiert, was nicht zuletzt an der Leistung von Natália Germani liegt, die uns im Dorf verankert. Sie verkörpert eine normale Person, die Antworten sucht. Sie führt kein Bilderbuchleben und wird von ihren eigenen Dämonen begleitet. Man fühlt mit ihr und hofft auf das Beste. Gleiches gilt für Mira, gespielt von Eva Mores. Insbesondere im Zusammenspiel erzeugen die beiden Darstellerinnen einige der besten Momente des Films.
Fazit:
Alles in allem ist NIGHTSIREN ein durchaus sehenswerter Film, der besonders durch seine nachvollziehbaren Figuren und seine düstere Ästhetik glänzt. Tereza Nvotová erzählt eine moderne Geschichte über eine Hexenjagd, die sowohl wortwörtlich verstanden werden kann als auch auf einer Metaebene funktioniert. Man erkennt viele clevere Ansätze, die Tereza Nvotová alle im Film unterbringen möchte. Leider werden nur wenige dieser Ideen vollständig ausgearbeitet. Hätte sich die Regisseurin auf die wesentlichen Punkte konzentriert und etwas von dem überschüssigen Fett abgeschnitten, hätte man hier nur noch das Filet behalten. So ist NIGHTSIREN ebenfalls wohlschmeckend, leidet aber an der eigenen Ambition.
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Originaltitel | Svetlonoc |
Kinostart | 29.9.2022 |
Länge: | 110 minuten |
Produktionsland | Czech Republic |
Genre: | Mystery | Drama | Horror |
Regie | Tereza Nvotová |
Executive Producer | Karel Chvojka | Georgia Poivre | Clara Levy |
Producer | Miloš Lochman |
Cast | Natalia Germani, Eva Mores, Juliana Oľhová, Iva Bittová, Jana Oľhová, Marek Geišberg, Zuzana Konečná, Noël Czuczor, Peter Ondrejička, Matúš Ryšan, Sára Tömölová, Ela Stanová, Petra Vajdová, Timothy Hlinka, Denis Polyák, Milan Mikulčík, Róbert Jakab, Monika Horváthová, Peter Čižmár, Martin Gallo |
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