Konträr zur herbstlichen und vergänglichen Ambiance der Bilder erzählt Céline Sciammas neuester Film vom Leben in seinem Sprießen. Ihr fünfter Spielfilm, nach hochgelobten Werken wie TOMBOY (2011) und PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN (2019), kehrt vom Ausflug ins Historiendrama in die Gegenwart zurück, zurück zur Geschichte einer kleinen Familie. Inszenatorisch bewegt sie sich damit wieder in Richtung ihrer bereits viel beachteten Erstlingswerke. Wortgetreu übersetzt trägt ihr neuester Film den Titel „Kleine Mutter“ und das ist durchaus wortwörtlich zu nehmen.
Die Geschichte, geschrieben von Céline Sciamma selbst, folgt ihren Hauptfiguren auf geheimnisvoller Fährte zwischen intimer Vergangenheit und der unausweichlichen Gegenwart. Obwohl er zum Teil in der ehemaligen Heimat der Regisseurin gedreht wurde, wird PETITE MAMAN – ALS WIR KINDER WAREN nie eindeutig autobiografisch, sondern entwickelt eine eigene, magisch realistische Geschichte. Neben zwei jungen Schauspieldebütantinnen spielen unter anderem Nina Meurisse (EIN LEBEN, CAMILLE) und Stéphane Varupenne (GODARD MON AMOUR, MONSIEUR CHOCOLAT) als Elternpaar auf. Mit ihrem neusten Werk konkurrierte Sciamma bei den 71. Internationalen Filmfestspielen von Berlin im Wettbewerb um den Goldenen Bären.
Darum geht es…
Nach dem Tod ihrer Großmutter fährt die junge Nelly gemeinsam mit ihren Eltern zum abgelegenen Häuschen der Verstorbenen, um die letzten Schränke auszuräumen. Die Mutter kapselt sich zusehends ab, bis sie vorzeitig abreist und das Mädchen bei ihrem Vater alleinlässt. Während sie nun zu zweit die letzten Gegenstände sortieren, trifft Nelly im angrenzenden Wald plötzlich auf ein junges Mädchen, welches denselben Namen wie ihre Mutter trägt. Und nicht nur das: das Haus, in dem sie lebt, ähnelt dem Häuschen ihrer Großmutter fast bis ins letzte Detail. Während sich die beiden Mädchen anfreunden, erkennt Nelly nach und nach die jüngere Version ihrer Mutter in der fröhlichen Marion…
Rezension
Nach der malerisch und episch anmutenden Optik von PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN erzählt Sciamma ihr neuestes Werk in deutlich persönlicheren und kleineren Bildern. Wirkungslos sind diese deshalb bei weitem nicht, im Gegenteil. In unaufgeregter Art und Weise fördern sie Natürlichkeit und Intimität der Erzählung und kristallisieren aus vermeintlich unauffälligen Situationen glaubhafte und nachfühlbare Charaktermomente heraus. Sich niemals in seinem herbstlichen und doch nostalgischen Cholerid traumtänzerisch verlierend, wägt sich der Film stilsicher fern von Kitsch und Melodram.
Empathisch begleitet Céline Sciamma die junge Nelly, welche nach dem Verlust ihrer Großmutter und durch die offene Trauer ihrer eigenen Mutter eine Vergangenheit und Gegenwart überschattende Verarbeitungs- und Annäherungsphase durchlebt. Die Aufeinandertreffen beider Mädchen, gespielt von den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz, fängt sie mit hinreichender Feinfühligkeit und stets aufrichtigen Respekt für die Empfindungen der jungen Hauptpersonen ein. PETITE MAMAN – ALS WIR KINDER WAREN lebt von seiner sehr nahbaren und menschlichen Auseinandersetzung mit Themen wie Verlust oder auch mütterlicher Zuneigung, die sich in seiner überschaubaren Laufzeit nicht durch umfangreiche Dialoge äußert, sondern durch die unscheinbaren, oftmals recht wortkargen Momenten zwischen den Charakteren.
Geborgen in der Vergangenheit?
Ähnlich unausgesprochen bleibt die Gegebenheit, in der sich die Geschichte auf magisch realistische Art und Weise zusammenfügt. Ein unerklärliches, sinnbildhaftes Phänomen, welches eine ungewöhnliche Perspektive beschert, aber gleichzeitig zu keinem Zeitpunkt mutwillig ausgereizt wird. Es etabliert sich zurückhaltend wie die zwischenmenschlichen Momente und doch in gelungenen Details, die sich etwa in der Einrichtung des Hauses oder in Farbnuancen bemerkbar machen. Indes erschafft die Kulisse des herbstlich gefärbten Waldes nicht nur eine gewisse nostalgische Geborgenheit und verdeutlicht sinnbildlich den Schwund eines geliebten Menschen, sondern etabliert sich auch als naturnahes Bindeglied zwischen den Zeiten.
Ihren gezielten Einsatz von Musik bewies die Regisseurin bereits in den packenden Schlussminuten ihres 2019 für den europäischen Filmpreis nominierten Vorgängerfilms. In PETITE MAMAN – ALS WIR KINDER WAREN wiederholt sie jenen Kniff mit ähnlichem Effekt, nur dass jene wenigen musikalisch untermalten Minuten anders als der Gefühlsausbruch Héloïses zu Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ deutlich befreiender und erfrischender erscheinen. „La Musique du Futur“ verleiht dem leisen, nachdenklichen, aber auch herzlichen Film eine zuversichtliche und kraftvolle Endnote.
Fazit
Fokussiert auf wenige Figuren und überschaubare Handlungsorte erkundet Celine Sciamma Verlusterfahrungen, Verarbeitungsversuche und Familienbeziehungen ihrer Charaktere. Einfühlsam begleitet sie ihre jungen Hauptfiguren auf Augenhöhe und auf märchenhaft anmutende Erzählpfade. In der Verknüpfung verschiedener Zeitebenen kreiert der Film sowohl magisch realistische als auch zutiefst menschliche Momente, die er mit unaufgeregten, aber auch farbenfroh ausdrucksvollen Bildern illustriert. PETITE MAMAN – ALS WIR KINDER WAREN ist unaufdringliches Schauspielkino, natürlich wie bewegend. Ein kleiner und taktvoller Film, welcher jede seiner 72 Minuten mit Leben füllen kann und bei dem es nicht verwundern würde, wenn seine Wirkungskraft beim wiederholten Ansehen weiter wächst.
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Originaltitel | Petite maman |
Kinostart | 17.03.2022 |
Länge | ca. 72 Minuten |
Produktionsland | Frankreich |
Genre | Drama | Fantasy |
Verleih | Alamode Film |
FSK |
Regie | Céline Sciamma |
Drehbuch | Céline Sciamma |
Produzierende | Bénédicte Couvreur | Claire Langmann | Cécile Négrier |
Musik | Jean-Baptiste de Laubier |
Kamera | Claire Mathon |
Schnitt | Julien Lacheray |
Besetzung | Rolle |
Joséphine Sanz | Nelly |
Gabrielle Sanz | Marion |
Nina Meurisse | La mère |
Stéphane Varupenne | Le père |
Margot Abascal | La grand-mère |
Florès Cardo | Dame maison de retraite |
Josée Schuller | Dame maison de retraite |
Guylène Péan | Dame maison de retraite |
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