Rezension
Bellende Hühner und schnatternde Hündchen sind bei weitem nicht das einzige Kuriosum Yorgos Lanthimos neusten Spielfilms, der bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig im vergangenen Jahr mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Es sind auch schrullige oder abscheuliche Figuren und die farbstrotzenden Kulissen, die von dem ursprünglich geerdeten Aufnahmen eines DOGTOOTH oder ALPEN nicht weiter entfernt sein könnten. Behalten hat sich der über die Jahre hinweg nun groß gefeierte Grieche die Verschrobenheit und Seltsamkeit seiner Vorgängerwerke. In POOR THINGS schmückt er diese mit einem detaillierten Bilder- und Kostümreigen sowie einer abermals überzeugenden Schauspielriege.
Allen voran: die für ihre Darstellung erst kürzlich mit dem Golden Globe prämierte Emma Stone, die tapst und taumelt, die Welt erkundet, zuschlägt, liebt und weint. Die ihrer Figur sowohl kindlich naiven als auch mit fortlaufender Entwicklung selbstbewussten Ausdruck verleiht. Fokus liegt dabei, neben Schwerpunkten des Regisseurs rundum Macht und Kontrolle, auf ihrer sich entwickelnden Sexualität. Angesichts dieser verblassen wissenschaftliche Neugier und andere Interessen der Figur zu Randbemerkungen einer Frau, deren gezeigte Odyssee an (sexueller) Ausbeutung nicht vorbeiführt. Lanthimos lässt seine Hauptfigur die Rolle des passiven Experiments, manipuliert von Forschervater und Liebhaber, zwar alsbald ablegen, tiefgründigere Facetten jedoch zugleich unausgearbeitet.
Bella is afraid
Zurück von den Toten durchläuft Bella ein Menschenleben im Schnelldurchlauf. Bevor Stones Schauspiel gemäß der Charakterentwicklung im letzten Drittel des Films an Nuancen gewinnt, sind es ausdrucksstarke Gesten und Mimiken, die die erlebte Flut an Eindrücken wirkungsvoll nach außen kehren und erstmalig erlebte Emotionen eindringlich extrahieren. Ihr zur Seite stehen eine Handvoll Interaktionspartner, deren Charakterzüge und Hintergründe wenig Beachtung erfahren. Und wenn, dann wirken Nebenhandlungsstränge wie jener um Willem Dafoes Schöpfer und Ziehvater Goodwin Baxter trotz des Aufgreifens wiederkehrender Themen vergleichsweise verloren.
Verziert wird Bellas Erkundungs- und Erlebnistour mit üppigen Bildern und Kulissen, die eine künstlich stilisierte Nebenrealität entwerfen. Farbkräftige, surreale Welten, in denen Kontraste des Films auch ganz ohne Worte transportiert und intensiviert werden. Märchenhaftes geht Hand in Hand mit manipulativen und grausamen Machenschaften, jung mit alt, Unschuld mit Skrupellosigkeit, skurrile Ideen und Setentwürfe mit unverhohlener Kritik an verklärten Männlichkeitsidealen und ignoranter Dekadenz. Dass nichts von all dem im Kosmos des Films deplatziert wirkt, ist Lanthimos‘ Geschick zu verdanken, die tonale Balance zwischen bizarrer Seltsamkeit und ernsten Grundlagen seiner Geschichte zu erhalten.
Frankensteins tollkühne Tochter
Vorgetragen mit verspielter Monstrosität und furchteinflößender Leitmotivik entspinnt sich eine aufwändig gestaltete Welt, die den Reifeprozess der Protagonistin abseits märchenhaften Kitsches illustriert. Vor diesem bewahren fragile Charakterkonstrukte und die manipulativen Beziehungen, die nicht zuletzt mit dem dargestellten Altersunterschied scharf provozieren, ohne das Thema je gewissenhaft aufzugreifen. Wie Bella unbesonnen zwischen den Kontrasten wandert, wankt auch die Musik als wandelbares Stilmittel hin und her: als Spielgefährtin, aber auch als Antagonistin einzelner Szenen und Figuren. Sie verstärkt Desorientierung und Verschrobenheit der Figuren und komplementiert die alles andere als zurückhaltend erzählte Adaption Alasdair Grays Romans.
Und dann ist da noch der Humor, der häufig schwarzgefärbt die in ihrer Struktur und durch die sexuelle Fokussierung eingeengte, in Teilen repetitive Handlung auflockert und das eigenwillige Universum prägt. In diesem rangeln Obsessionen, Machtgier, das Künstliche und das Echte, Hemmungen und Hemmungsloses um die Vorherrschaft. Nicht alles davon ist so prägnant auf den Punkt gebracht wie in anderen Filmen Lanthimos‘. Nahe kommt dem aber folgendes Zitat: We are a fucked species, wird an einer Stelle des Films resümiert. Aber zumindest eine, die hin und wieder Außergewöhnliches auf der großen Leinwand sehen kann.
Fazit
Der Mix aus düsterem Märchen, schwarzhumoriger Groteske und moderner Frankenstein-Bearbeitung lebt von seiner aufwendigen Gestaltung, der Regisseur-eigenen Seltsamkeit und allen voran Emma Stones ausdrucksvoller Performance. Indes überragen Kostüme und Kulissen Facetten der Figuren, Themen und Dialoge und ausgedehnte zwei Stunden zwanzig die Präzision vorangegangener Werke.
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Originaltitel | Poor Things |
Kinostart | 7.12.2023 |
Länge: | 142 minuten |
Produktionsland | Ireland |
Genre: | Science Fiction | Liebesfilm | Komödie |
Regie | Giorgos Lanthimos |
Executive Producer | Daniel Battsek | Ollie Madden |
Producer | Giorgos Lanthimos | Ildikó Kemény | Kasia Malipan | David Minkowski | Emma Stone | Ed Guiney | Andrew Lowe |
Kamera | Robbie Ryan |
Visual Effects | Tom Feist-Wilson | Tim Barter | Levente Safrany |
Musik | Jerskin Fendrix |
Cast | Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Suzy Bemba, Jerrod Carmichael, Kathryn Hunter, Vicki Pepperdine, Hanna Schygulla, Margaret Qualley, Jack Barton, Charlie Hiscock, Attila Dobai, Emma Hindle, Anders Grundberg, Attila Kecskeméthy, Jucimar Barbosa, Carminho, Angela Paula Stander |
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