Sorry We Missed You

FilmkritikIn Kürze zusammengefasst

Originaltitel: Sorry We Missed You
Kinostart: 30.01.2020

FSK 0 ©FSK

Länge: ca. 101 Minuten
Produktionsland: Belgien | Frankreich | Vereinigtes Königreich
Regie: Ken Loach
Schauspieler:innen: Kris Hitchen | Debbie Honeywood | Rhys Stone
Genre: Drama
Verleih: NFP

Ken Loach ist bekannt dafür in seinen Filmen den britischen Sozialrealismus in ausgesprochener Intensität darzustellen. Seit den 1960er Jahren erzählt er Geschichten wie kaum ein anderer und zeigt darin vor allem soziale Missstände der Gesellschaft. Unzählige Male durfte er seine Filme bereits auf der Berlinale vorstellen sowie auch mehrfach bei den äußerst populären und wichtigen Filmfestspielen von Cannes. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für seine Werke ist wohl zum einen die grenzenlose Ehrlichkeit und Realitätsnähe sowie auch die kontinuierliche Arbeit mit dem gleichen Drehbuchautor (Paul Laverty) und Filmeditor (Jonathan Morris). Zuletzt geriet Loach in die Schlagzeilen durch seinen grandiosen Film ICH, DANIEL BLAKE, der den Kampf gegen die britische Bürokratie zeigt in Zeiten der persönlichen Hilflosigkeit.

Für SORRY WE MISSED YOU hat sich Loach nun der heutigen Geschäftspolitik zugewandt und dabei gleichzeitig das Leben in der oberen Armutsgrenze versucht einzufangen. Nach ICH, DANIEL BLAKE ist das Filmteam erneut in die Stadt Byker eingekehrt und haben mit dem ortsansässigen Dave Johns hervorragende Voraussetzungen für einen möglichst wahren Film geschaffen. Dafür wurde zudem immer wieder Kontakt zu Leuten aufgenommen, die selbst in den gezeigten Jobs tätig sind, um deren Arbeit so realistisch wie möglich zeigen zu können und den modernen Leistungsdruck zu visualisieren. Die besondere Schwere darin lag, dass viele der Unterstützer Angst um ihren Job hatten und daher nur wiederwillig bereit waren die Informationen zu teilen.

Auf dem Weg in die Selbstständigkeit

Doch von welcher Berufsgruppe rede ich hier eigentlich?
Ricky ist ein Mann mittleren Alters, der sich seit vielen Jahren mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt. Er hat eine kleine Familie, bestehend aus seiner Frau Abby, welche in der häuslichen Krankenpflege tätig ist, sowie ihren gemeinsamen Kindern Liza Jane und Seb, welche beide noch zur Schule gehen. Mit ihren Jobs können sie sich gerade so über Wasser halten und die beiden Eltern geben alles dafür, dass es ihren Kindern einmal besser geht als ihnen selbst. Doch möchte Ricky mehr vom Leben. Aus diesem Grund nutzt er die Chance der Digitalisierung und versucht sich Selbständig zu machen. Sein Ziel ist es als Kurierfahrer selbstbestimmend zu arbeiten und damit sowohl mehr für die Familie da zu sein als auch die finanziellen Probleme dauerhaft zu beenden. Doch ist es wirklich so einfach dies zu erreichen, wie die Stellenbeschreibung es suggeriert?

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Ein Meisterwerk der Extraklasse

Habt ihr euch auch schon einmal in einen Film reingesetzt ohne jegliche Erwartungen und wurdet dann völlig überraschend von einem grandiosen Meisterwerk erschlagen? Dann wäre wohl SORRY WE MISSED YOU der beste Beginn, um solch eine Erfahrung einmal machen zu können. Dieses Werk bietet mit seiner äußerst tiefsinnigen und Anspruchsvollen Handlung sogleich ein Höhepunkt, welcher mir den Beginn des aktuellen Jahrzehnts wohl für immer in den Kopf gebrannt hat und wieder einmal beweist, dass die Engländer einfach ein Händchen für fantastische Werke der Filmkunst besitzen.

Doch was bietet der SORRY WE MISSED YOU tatsächlich, um so hoch von mir gelobt zu werden? Wohl vor allem eine ehrliche Geschichte, die herzzerreißender und zugleich brutaler kaum sein könnte. Wie schon im französischen Film AUSGEFLOGEN schafft es der Film die alltägliche Realität eines großen und dennoch scheinbar unwichtigen Personenkreises an die breite Masse heranzutragen und dabei mit internationaler Gleichheit zu überzeugen.

Detailgenauigkeit in jedem Moment

Es sind die kleinen Augenblicke, verbunden mit eigenen Erfahrungen, die den Film wirklich ausmachen. Es ist einfach grandios, wie die Kamera den Gesichtsausdruck eines Mannes einfängt, der gleichzeitig Stolz und Freude empfindet für seine Tochter, die ihm im Job hilft und dabei mit ein wenig Trinkgeld belohnt wird und ebenso Traurigkeit, Erschöpfung und Verzweiflung erleben muss, da ihm die Probleme bis zum Halse stehen. Dabei schafft es Loach den Zuschauer auf einen schleichenden Prozess auf dem Weg ins Verderben mitzunehmen, ohne dass dieser es so wirklich merkt. Ebenso wie die Figuren anfangs voller Hoffnungen und Ehrgeiz sind und nur langsam in die Krisen des Alltags abrutschen, wird auch im Zuschauer eine entsprechende Hoffnung erzeugt, die zunehmend in Erstaunen und schließlich in Entsetzen verwandelt wird.

Sie arbeiten ja von morgens um 8 bis abends halb 9! Was ist aus dem 8-Stunden-Tag geworden?

Wichtig für eben jenen Prozess ist die Logik der Handlungsabfolge und der Schlüssigkeit der Szenen in sich. Diese ist zu jedem Zeitpunkt gegeben, da jede einzelne Tat eines jeden Darstellers zu 100% sinnhaft erklärbar ist. Zudem bietet SORRY WE MISSED YOU einen spannenden Einblick hinter die Kulissen zweier deutlich unterschätzter Berufsgruppen, die sonst nur wenig Beachtung in der heutigen Medienlandschaft finden. Zwar liegt dabei der Fokus doch deutlich auf der Arbeit der Kurierfahrer, doch finden auch die Probleme der häuslichen Krankenpflege immer wieder ihre wichtigen Momente. Endscheidend dabei ist wohl, dass dies zwei so umfassende Themengebiete sind, dass es eine Farce gewesen wäre sich auf beide gleichzeitig zu konzentrieren und dabei intensiv aufzuarbeiten.

Dokumentation ohne realer erzählerischer Grundlage

Abgesehen davon erwartet das Publikum jedoch keine langweilige zweistündige Dokumentation (auch wenn der Film teilweise auch in diese Sparte hätte eingeordnet werden können, wenn die Geschichte nicht fiktional erzählt wurden wäre), sondern vielmehr ein emotional mitreißendes Familiendrama, indem sowohl die berufliche Karriere der Protagonisten beleuchtet wird als auch das familiäre Dasein, die Auswirken auf die eigene Freizeit und Freiheit sowie entstehende Folgen für alle Teile der Familie. Diese Story nimmt einen realistischen dramaturgischen Spannungsverlauf, welcher die Intensität des Werks ins unermessliche steigen lässt.

Loach arbeitet dabei immer wieder mit Problemketten die stets weitere Herausforderungen mit sich bringen. Aus einem kleinen Problem entwickeln sich stets neue Komplikationen, welche wiederum weitere Schwierigkeiten hervorrufen. Denkt der Zuschauer, dass endlich ein Ärgernis beendet ist, so stellt sich doch heraus, dass es sich dabei nur um Flickschusterei handelte, welche in der langfristigen Folge noch größere Herausforderungen zur Folge hat.

Kris Hitchen – Neues Schauspielsternchen

Neben der Story sind es jedoch vor allem die Darsteller, die den Film tragen und herausragend machen. Für den Film hat Loach sich Menschen gesucht, die keinem Idealbild entsprechen und schon vom äußeren Erscheinungsbild ganz dem durchschnittlichen Bürger entsprechen wie ich und du einer sind. Zu keinem Zeitpunkt kommt eigentlich auch nur ansatzweise die Frage auf, ob die Handlung geschauspielert ist, außer wenn die Neugier aufkommt, ob es sich hierbei um eine Dokumentation handelt. Ansonsten ist jede Gefühlsregung sowas von echt, dass sie eigentlich gar nicht geschauspielert sein kann.

Unglaublich loben muss ich dabei vor allem Kris Hitchen, der in der Hauptrolle ein Meisterwerk von Schauspielkunst zeigt und schon jetzt für alle Preise nominiert sein müsste, die aktuell auf der Welt vergeben werden. Jeder Gesichtszug stimmt auf den Punkt genau und vereint gleich mehrere Gefühlslagen in einem Blick. Es ist fast unerklärlich wie es dieser Branchenneuling schafft mit einem Gesichtsausdruck mehr Dramatik zu erzählen als der Großteil aller Filme in ihrer gesamten Spieldauer.

Visuell bestechend und kaum Makelbehaftet

In diesem Zuge muss jedoch auch gleichzeitig die Arbeit des Kamerateams erwähnt werden, denn unter der Leitung von Robbie Ryan schafften sie es eben jene Faszination auch perfekt festzuhalten und mit präzisen Kameraeinstellungen stets die Wichtigkeit des Moments einzufangen. Und das wohl gemerkt ohne viele Spielereien! Immer wieder werden in modernen Werken noch grandiosere Animationstechniken, CGI-Effekte oder sonstige Stilelemente eingebunden, die alle nicht nötig sind, wenn man es auch schafft mit dieser Genauigkeit der Arbeit mit simpelsten Mitteln alles zu erzählen.

Etwas mager kommt dabei die musikalische Untermalung und Soundgestaltung weg, doch sind diese auch keineswegs elementar für SORRY WE MISSED YOU. Auf der Suche nach Kritikpunkten ist die Verzweiflung groß, denn einzig erwähnenswert scheint hier die große Zufallsdichte der frustrierenden Geschehnisse, die stets zügig aufeinander folgen. Doch wirft der Rezensent dann ein Blick aufs eigene Leben, muss man einfach feststellen: Ja, es gibt einfach solche Momente, in denen einfach alles schiefläuft und eine Katastrophe die Nächste jagt. Und immer wenn man denkt, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, beweist das Schicksal genau das Gegenteil.

Genialität bis zum letzten Bild

Schlussendlich bleibt somit also nur zusagen: Ein grandioses Meisterwerk, welches mich bis ins Mark erschüttert hat und auf eine emotionale Reise mitgenommen hat, die es zwingend erforderlich machte danach mit einer Person zu sprechen und diese Erlebnisse zu verarbeiten.

Mit diesem Film hat Ken Loach ein berührendes und zugleich erschreckendes Werk geschaffen, welches vor allem durch gnadenlose Ehrlichkeit und tiefgreifende gesellschaftliche Kritik am heutigen Berufswesen besticht. Zugleich wird es erreicht das soziale Leben der Figuren in einen heiklen Kontrast zu eben jenem Wesen zu setzen. Der Zuschauer wird dabei erfolgreich in den Leidensweg der Protagonisten hineingezogen, womit der Eindruck der eigenen Betroffenheit entsteht. Dieses Meistwerk lebt dabei vor allem von präzise gesetzten Kameraperspektiven, großartigen Bildern und hervorragenden Darstellern, die in eben jene reale Welt besser hineinpassen als es jeder namhafte Schauspieler je könnte. Der schleichende Prozess der mentalen Zerstörung eines Menschen wird begleitet von der einmalig tragischen Art das Leben so nehmen zu müssen wie es ist.

Dies ist ein absolutes Meisterwerk, dass es schafft mit einfachsten filmischen Mitteln den Zuschauer auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle mitzunehmen und in den schleichenden Prozess der absoluten Verzweiflung einzubeziehen, insbesondere wenn dieser bereits selbst ähnliche Lebensumstände durchleben musste.