Noch bevor Charles Manson als einer der skrupellosesten Verbrecher in die Geschichte einging, schaffte er es mit Charme und Charisma viele junge Männer und Frauen in seinen Bann zu ziehen. Als Sektenführer hat er eine große Gefolgschaft um sich gescharrt, die sich gemeinsam mit ihm auf einer abgelegenen Ranch niederließen und dort unter seiner Führung eine kleine Parallelgesellschaft bildeten. Seine Werte waren maßgebend, sein Wort war Gesetz und seiner Ordnung wurde Folge geleistet. Dabei waren es vor allem Mansons Anhängerinnen, die im hörig waren. Die in der sogenannten Manson Family herrschenden Strukturen erinnerten stark an die des Patriarchats.
Der Mann bestimmt über die Rolle und die Stellung der Frau, die sich den vom vermeintlich stärkeren Geschlecht geschaffenen gesellschaftlichen Zwängen unterordnen muss. Diese Beeinflussung geht meist mit der Ausübung von symbolischer Gewalt einher. Dabei geht es um Unterwerfung durch Verunsicherung, Verfügbarmachung und Missbrauch – alles Werkzeuge, zu denen auch Manson griff. Für den in mehreren Ländern Co-produzierten THE OTHER LAMD (USA, Irland und Belgien) ließ sich die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska – bekannt für Filme wie BODY oder DAS BESSERE LEBEN – augenscheinlich von der Manson Family inspirieren und inszeniert ihr Horrordrama als Parabel für den Ausbruch aus einem patriarchalen System.
Darum geht es…
Selah (Raffey Cassidy) ist im Grunde ein ganz normales Mädchen. Doch anders als für eine Teenagerin in ihrem Alter üblich, hat sie noch nie eine staatliche Schule besucht oder einen Tag mit Gleichaltrigen in der Stadt verbracht. So etwas wie Freunde kennt sie nicht. Sie hat nur ihre Gemeinschaft. Seit ihrer Geburt ist Selah Teil einer isolierten kleinen Sekte, die zurückgezogen in den Wäldern ein einfaches Leben fernab der Zivilisation führt. Angeführt wird der religiöse Kult von einem Mann, der von allen Mitgliedern nur als der Hirte (Michiel Huisman) bezeichnet wird. Seine untergebene Gefolgschaft besteht ausschließlich aus Frauen, die sich in zwei Gruppen einordnen lassen: Seine Ehefrauen und seine Töchter. Zu Letzteren gehört auch Selah, die mit den anderen Frauen ein unterwürfiges, für sie aber völlig akzeptables Leben fristet, dass sich von früh bis spät ausschließlich um ihren Anführer dreht. Mit dem Einsetzten ihrer Periode und den damit einhergehenden körperlichen Veränderungen, werden erste Zweifel an der erhofften Erlösung durch den Hirten geweckt. Auch die schrecklichen Visionen, die die Teenagerin plötzlich heimsuchen, bestärken sie in dem Gedanken, dass sie in ihrer Gemeinschaft keine schöne Zukunft erwarten wird.
Rezension
Tippt man den Titel von Małgorzata Szumowskas neuem filmischen Werk in die Google-Suchleiste und verlässt sich nach der Bestätigung durch die Enter-Taste auf die dann erscheinenden Angaben, könnten diese leicht falsche Erwartungen schüren. So deklariert die Internetsuchmaschine das ruhige Drama fälschlicherweise als waschechten Horrorthriller. Nun lässt sich der Genre-Hintergrund von THE OTHER LAMB zwar zu keinem Zeitpunkt leugnen, doch trotz der vorhandenen Horrorelemente bleibt die Geschichte über eine junge Frau in den Fängen einer Sekte im Kern stets ein Drama – einen reißerischen Thriller sollte man daher auf keinen Fall erwarten. Das Horrordrama spielt mit der Erwartungshaltung der Zuschauer*innen und strapaziert dabei immer wieder deren Geduld. Die Geschichte verfolgt zwar einen linearen Plot, legt dabei aber weniger Wert auf eine komplexe Handlung als auf detailverliebte Momentaufnahmen aus dem Leben der Sekte. Das macht THE OTHER LAMB zu einem wirklich interessanten und auch fesselnden Erlebnis, sofern man sich auf die entschleunigte Erzählweise und das gemächliche Tempo einlassen kann. Wer bei THE VVITCH schon aus dem Gähnen nicht mehr heraus kam, wird hier definitiv Mühe haben nicht in Sekundenschlaf zu verfallen.
Szumowska lässt sich zunächst sehr viel Zeit, um die Strukturen und Gepflogenheiten innerhalb des religiösen Kults zu studieren und legt dabei großen Wert auf Metaphorik und kleine Details. Das einheitlich geflochtene Haar und die klassifizierenden Gewänder der Frauen deuten auf eine Gleichstellung des weiblichen Geschlechts hin, wodurch ihnen jede Form von Individualität genommen wird. In der Herde, wie der Hirte seine Gefolgschaft nennt, gibt es strikte Regeln und eine strenge Hierarchie, an deren Spitze selbstverständlich er, der Hirte steht. Während die in rote Roben gehüllten Ehefrauen mehr Rechte genießen und neben der Rolle als Bettgespielinnen auch noch die Aufsicht der Töchter zur Aufgabe haben, bilden die in blau gekleideten Töchter die unterste Stufe der Rangfolge – in stetiger Erwartung, mit der Geschlechtsreife selbst zu Ehefrauen zu werden. Mit dem späteren Hinterfragen von Selah und der damit einhergehenden Auflehnung gegen die von einem Mann geschaffene Gesellschaftsordnung schafft THE OTHER LAMB eine wenig subtile, aber treffende Metapher für den zunehmenden Widerstand gegen das Patriarchat.
Ausbruch aus dem Patriarchat
Mit derselben Detailverliebtheit widmet sich THE OTHER LAMB auch der Charakterisierung seiner Protagonistin. Hierfür bedient sich das Sektendrama, der im Horrorgenre gern gesehenen Coming-Of-Age Thematik. Mit dem Einsetzten von Selahs erster Periode, beginnen auch ihre dunklen Visionen und Albträume. Die Menstruation ist nach der Lehre ihres Hirten ein Zeichen von Unreinheit, die einzig durch die Verabreichung der „Gnade“ – besser gesagt dem Sexualakt – durch ihn wieder behoben werden kann. Er allein übernimmt die Erziehung und die Bildung seiner Töchter, wodurch Selah ein beruhigender weiblicher Blick auf ihre körperlichen Veränderungen verwehrt bleibt. Ihr “Frauwerden” ist für sie mit Scham und Angst behaftet, was sich in ihren Tagträumen in Form von blutigen, verstörenden Bildern, wie etwa einem toten Lamm, widerspiegelt. Und doch verbindet sie eine tiefe Zuneigung zu ihrem Anführer, irgendwo zwischen seelischer Abhängigkeit und körperlicher Begierde. Erst durch ihr Hinterfragen und ihrem Zweifeln beginnt die Fassade des vermeintlichen Paradieses zu bröckeln und gleichzeitig das Band zu reißen, welches sie an ihren Hirten bindet. Ein Akt der Emanzipation!
THE OTHER LAMB geizt nicht an Bildsprache und Symbolik – und sieht dabei atemberaubend schön aus. Zu verdanken ist dies zum einen Kameramann Michal Englert, aber auch den malerischen Kulissen der irländischen Ostküste, wo das Horrordrama gedreht wurde. Unterlegt werden die atmosphärischen Bilder von dezent eingesetzten Saiteninstrumenten und schaurigen Volksliedern, die den audiovisuellen Genuss perfekt machen. Inszenatorisch hält sich Małgorzata Szumowska deutlich zurück, kann damit aber dennoch die volle Wirkung entfalten. Wenn man über THE OTHER LAMB spricht, kommt man nicht daran vorbei auch über die starke Leistung der Hauptdarstellerin Raffey Cassidy zu sprechen. Diese darf nach ihrer Rolle in THE KILLING OF A SACRED DEER erneut ihr enormes schauspielerisches Talent unter Beweis stellen und zeigt mit ihrer Performanz als Selah, dass ihr noch eine große Karriere in Hollywood bevorstehen dürfte.
Fazit
In der Ruhe liegt die Kraft. Wer seine Erwartungshaltung anpasst und sich auf das entschleunigte Tempo von THE OTHER LAMB einlassen kann, wird mit dieser ruhigen kleinen Genre-Perle viel Freude habe. Die polnische Regisseurin Małgorzata Szumowska inszeniert ihren Sektenhorror in erster Linie als feinfühliges Drama über das Erwachsenwerden, die Emanzipation und den Kampf gegen weibliche Unterdrückung – der Horror ist lediglich Beiwerk. Also Achtung: THE OTHER LAMB ist kein Horrorthriller, sondern wirkt mit seinen subtil eingesetzten Horrorelementen und der gemächlichen Erzählweise vielmehr wie eine Produktion aus dem Hause A24 – und genau das macht ihn so gut.
Originaltitel | The Other Lamb |
Kinostart | 23.06.2022 |
Länge | ca. 96 Minuten |
Produktionsland | Irland | Belgien | USA |
Genre | Drama | Horror | Mystery |
Verleih | Koch Films |
FSK |
Regie | Małgorzata Szumowska |
Drehbuch | Catherine Smyth-McMullen |
Produzierende | Marie Gade Denessen | Julia Godzinskaya | David Lancaster | Tristan Lynch | Will Norton | Aoife O’Sullivan | Adrian Politowski | Dearbhla Regan | Liam Ryan | Beata Saboova | Jon Shiffman | Scott Varnado | Sophie Vickers | Stephanie Wilcox |
Musik | Rafaël Leloup | Pawel Mykietyn |
Kamera | Michal Englert |
Schnitt | Jaroslaw Kaminski |
Besetzung | Rolle |
Raffey Cassidy | Selah |
Michiel Huisman | Shepherd |
Denise Gough | Sarah |
Ailbhe Cowley | Tamar |
Eve Connolly | Adriel |
Isabelle Connolly | Eloise |
Jane Herbert | Evelyn |
Aislín McGuckin | Maria |
Kelly Campbell | Hannah |
Eva Mullen | Lily |
Esosa Ighodaro | Leah |
Mallory Adams | Esther |
Irene Kelleher | Joanna |
Gráinne Good | Lydia |
Hinterlasse einen Kommentar