Ein (persönlicher) Festivalbericht
verfasst von Paul
Der Parkettboden des Kinos klappert noch leise, und auf den Sitzen tuschelt es aufgeregt, während das Licht gemächlich von den Wänden zurückklettert und das farbenfrohe Logo des Filmfestivals von mächtigem Trommeln begleitet auf der Leinwand erscheint. Der Moderator hat die kleine Bühne bereits verlassen, es folgen wenige Sponsorenclips, irgendwo fällt eine Tüte Popcorn um. Die Vorstellung beginnt, und es ist eine von vielen, die die weite Welt mit ihrer internationalen Produktionen in kleine Kinosäle des Landes holen.
Seit 9. Oktober 2021 richten sich die Scheinwerfer des diesjährigen Schlingel-Filmfestivals auf Chemnitzer und Zwickauer Kinosäle – auf altbekannte Projektoren und vertraute Leinwände, die das Internationale Filmfest mittlerweile zum 26. Mal bespielt. An acht vielseitig gefüllten Tagen gibt es die Möglichkeit über zweihundert Filme anzusehen, darunter 7 Welturaufführungen und 31 Deutschlandpremieren sowie viele Kurzfilme aus aller Welt. In über fünf verschiedenen Spielstätten in und rundum Chemnitz und Zwickau flimmern die Kinofilme vormittags für Schulklassen und nachmittags für jedermann über die Leinwände, begleitet von filmbezogenen Moderationen, Diskussionen und internationalen Gästen.
Nach sechs Festivaltagen ist es Zeit, einige Eindrücke festzuhalten. Einblicke in die Atmosphäre eines außergewöhnlichen Filmfestivals, in einzelne vorgeführte Filme und in die (alljährlichen) Highlights der Festivalwoche. Mögen die Filme auch nicht das Prestige großer Filmfestspiele á la Cannes besitzen, im Bereich der internationalen Kinder-, Jugend- und Familienfilme und in Sachen brancheninterner Vernetzung hat das Festival mittlerweile einen bedeutsamen Platz eingenommen. Eine Woche von nicht zu verkennendem Wert für eine baldige europäische Kulturhauptstadt.
Zwischen Kinosessel und Foyer
Der Anblick voller Kinosäle dürfte vielen Kinogänger*innen seit anderthalb Jahren zur Seltenheit geworden sein. Mit Hygienekonzept, Abstand und der richtigen Koordination war es jedoch auch in diesem Jahr möglich, ein Stück des Eventcharakters ins Kino zurückzuholen. Lange Schlangen gab es vor allem beim Einlass für die Vormittagsvorstellungen und weiteren Andrang bei der Kurzfilmnacht – viele belebte Kinogänge und Foyers, die örtliche Kinobetreiber*innen lang nicht mehr bestaunen konnten. Und waren im vergangenen Jahr ein Großteil der internationalen Gäste auf der Leinwand zugeschaltet gewesen, gab es 2021 wieder Besuch in Präsenz und die Gelegenheit mit Schauspieler*innen und Filmschaffenden auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.
Die Atmosphäre des Festivals ist behaglich und stets ein wenig turbulent. Ich habe die Möglichkeit hin und wieder hinter die Kulissen zu schauen und dort das Treiben aufzuschnappen. Vom großen Kraftaufwand und den gewaltigen Koordinationsaufgaben bekommt das Publikum im Kinosaal nur am Rande mit, das überwiegend junge und sehr engagierte Team lässt die Festivaltage wie eine organisatorische Leichtigkeit erscheinen. Hinter rot-schwarzen Aufstellern sind jedoch nicht nur die zahlreichen Mithelfer*innen und ab und an Q&As mit Filmschaffenden anzutreffen, sondern auch viele der Gäste.
Am ersten Abend sitze ich als Journalist zunächst etwas verlassen auf einer Bank, beobachte die verschiedenen Crews und krame mir im Kopf zusammen, wie viel meiner Russischkenntnisse ich noch aus der Schulzeit zusammentragen kann, um zwei Gäste aus Moskau anzusprechen. Schließlich sind es jedoch ein paar Schauspieler*innen aus Finnland, mit denen ich an diesem Abend ins Gespräch kommen sollte, – Jungdarsteller*innen und Begleitpersonen, die mir von ihrer langen Reise, ihren mitgebrachten Filmen und der Entstehung dahinter berichten. Die Gesprächsthemen sind seicht, in gebrochenem Englisch, aber unentwegt von einer gemeinsamen Leidenschaft für Filme und in diesem speziellen Fall einer gemeinsamen Abneigung von Butterbrezeln geprägt. Begegnungen dieser Art gestalten das Festival auch über die Filme hinaus besonders nahbar und erfahrenswert.
Die lange Woche der (kurzen) filmischen Begegnungen
Die gezeigten Filme selbst geben einen Anstoßpunkt, sind Diskussionsgrundlagen und wahrscheinlich so vielfältig wie sie kaum ein anderes Festival beheimatet. Neben einer schonungslosen Milieustudie läuft ein Animationsfilm ab fünf Jahren, neben einem nostalgischen Science-Fiction-Film eine spirituelle und meditative Trauerbewältigung aus Kindersicht. In drei Kategorien, dem Kinderfilm, Junior- und Jugendfilmprogramm und dem zusätzlichen Kurzfilmwettbewerb laufen Filme aus fast 50 Ländern in Originalton mit englischen oder deutschen Untertiteln. Für die junge Zielgruppe des Festivals werden die Filme von professionellen Sprecher*innen wie Schauspieler und Puppenspieler Michael Schmidt live im Saal eingelesen. Für ungewohnte Ohren in den ersten Minuten befremdlich, aber nicht ohne einen gewissen Charme.
Besonders prominente Themen sind wie in den Jahren zuvor die Emanzipation von der Familie und vor allem das Bewusstsein für die Umwelt und der Umweltschutz, manchmal subtiler wie im litauischen Beitrag DAS HERZ EINES SCHMETTERLINGS, manchmal auch deutlich plumper wie in der tschechischen Produktion MARTIN UND DIE MAGIE DES WALDES. In ersterem gelingt es der Regisseurin Inesa Kurklietyte, eine magische Welt der Käfer und Insekten zu kreieren, ohne auf magische Feen und Kobolde zurückzugreifen. Solch zauberhafte Eigenheiten und Fantasyelemente sind hingegen die Stärken des tschechischen Beitrages, welche unter seinen dick aufgetragenen Botschaften leider an Originalität verlieren.
Im Jugendfilmbereich sind es indes oft Einzelschicksale, die im Vordergrund stehen – in SHORT HISTORY OF THE LONG ROAD ist es das Leben einer jungen Frau, die nach einem Schicksalsschlag allein ein Nomadenleben pflegt und nach ihrer Familie sucht. Damit erinnert er thematisch an den diesjährigen Oscargewinner NOMADLAND, ist ebenso unvollständig, aber zielsuchender. Der Film von Ani Simon-Kennedy streift zudem etliche Themen abseits des Umherziehens an, ist schön gefilmt und eindringlich gespielt. Mit neunzig Minuten ist er etwas zu kurz, um all seine Facetten ausleuchten zu können, überzeugt aber auf ganzer Linie mit seiner Hauptdarstellerin Sabrina Carpenter. Ebenfalls mit seiner Darstellerin überzeugen, kann die polnisch-irische Koproduktion I NEVER CRY, eine tragischkomische Odysee einer Siebzehnjährigen, die allein nach Irland reisen muss, um sich um die Hinterlassenschaften ihres Vaters zu kümmern. Trotz ernster Themen und seiner nüchternen Erzählweise streut der Film herzliche und menschliche Momente ein, ist nie staubtrocken in Szene gesetzt und bietet reichlich Raum zum Nachdenken.
Am fünften Festivaltag stand schließlich die Lange Nacht der kurzen Filme als eines der Highlights der Filmwoche an. In über fünf Stunden wurden 20 Filme des Kurzfilmwettbewerbs gezeigt, vier Preise verliehen, Botschaften von Regisseur*innen aus aller Welt gezeigt und etliche Hot-Dogs verzehrt. Im Wettbewerb für kurze Animationsfilme national triumphierte der musikalische und zahlreiche Gefühlswelten durchmischende THE ABC OF BREAKUPS, international der französische Kurzfilm DU HAST MEINE INLINER VERKAUFT?. Mit ROMANTIK ZWISCHEN X UND Y und AFFENMÄDCHEN wurden ebenfalls zwei Real-Kurzfilme prämiert.
Ein Schlitzohr bringt Chancen
Wie bei den meisten Festivals steht am Ende der Woche die Preisverleihung an, im Falle des Schlingel-Filmfestivals sind das über 20 verschiedene Auszeichnungen, von denen einige mit einem Preisgeld von bis zu 12.500 Euro dotiert sind. Unter anderem verleihen die Stadt Chemnitz, die sächsische Kunstministerin und die Sächsische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien hochdotierte Preise und für den/die beste*n Kinderdarsteller*in gibt es ein Fahrrad der Diamant Fahrradwerke Hartmannsdorf. Außerdem wählen einzelne Jurys, die das Festival über die Woche hinweg begleitet haben, ihren Favoriten aus. Unter ihnen die FIRPESCI und die Ökumenische Jury, sowie die aus Kindern und Jugendlichen bestehenden nationalen Kinder-, Junioren- und Jugendjurys und die europäische Kinderjury.
Den Publikumspreis in Chemnitz gewann schließlich das britische Drama A BRIXTON TALE, die internationale FIPRESCI sowie die Ökumenische Jury kürten EIN ZIRKUS FÜR MICH ALLEIN zu ihrem Favoriten. Als bester Animationsfilm wurde IM HIMMEL IST AUCH PLATZ FÜR MÄUSE ausgezeichnet, der Preis der Stadt Chemnitz ging an SUN CHILDREN. Den Hauptpreis der Europäischen Kinderjury erhielt die belgische Produktion SPACEBOY.
Eine Plattform bietet das Schlingel-Filmfestival jedoch auch ohne eine Preisvergabe, womöglich sogar die Chance auf eine Veröffentlichung im deutschen Markt. Gleichzeitig bekommen Schulklassen neben einem „freien“ Schulvormittag und alle anderen Zuschauer*innen neben einer bloßen Ablenkung vom Alltag die Gelegenheit, in cineastischem Fernweh zu schwelgen.
Die Welt auf einem Fleck
Seltener bekommt man die grenzenlose Wirkung und die Begeisterung für das Medium Film so deutlich zu spüren wie an diesen Tagen. Eine Möglichkeit, die Welt zu erfahren, wie sie im Alltag unerfahrbar ist, Geschichten zu entdecken, wie sie sich normalerweise hinter Allerweltsnachrichten verstecken und Charakteren zu begegnen, deren Lebenswelt manchmal ferner nicht sein könnte. Die Vielzahl an Filmen, an Themen und an Konflikten ist nur schwer innerhalb einer Woche zu konsumieren, bewegt junge und junggeblieben Filmfans und Schaffende aber hoffentlich auch darüber hinaus – sei es wegen einer erzählten Geschichte, wegen einer Begegnung mit Cast und Crew aus einem anderen Land oder der Möglichkeit, seinen eigenen Film vorzustellen und weiterzuverbreiten.
Es liegt das Gefühl in der Luft, als wäre für einen kurzen Moment die Welt in einem cineastischen Mikrokosmos zusammengekommen, hätte gemeinsam geredet und diskutiert und Filme geschaut, und dafür gebührt der 26. Ausgabe des Festivals und dem gesamten Team dahinter großer Respekt.
Bis zum 16. Oktober gibt es die Möglichkeit, Filme auf dem Internationalen Filmfest Schlingel zu sehen, danach kehrt das Festival spätestens mit seiner 27. Auflage im kommenden Jahr 2022 zurück.
Ich freue mich auf jeden Fall schon auf das nächste internationale Filmfestival. Hier ist wirklich jede Minute pure Unterhaltung