Rezension
gesehen im Rahmen der 58. Internationalen Hofer Filmtage
Eng am Zeitgeist schuf Regie-Ikone und Großmutter der Nouvelle Vague Agnès Varda 1977 ihren Film DIE EINE SINGT, DIE ANDERE NICHT. Ein authentisches Porträt weiblicher Solidarität, eine Geschichte über die enge Freundschaft zweier Frauen, eine Abtreibung, ihre Emanzipations- und Identitätskämpfe. Um eine ähnlich innige Freundschaft, Selbstbestimmung in der Gegenwart und auch um einen Schwangerschaftsabbruch dreht sich Emilie Girardins DIE EINE TANZT, DIE ANDERE NICHT. Statt im Frankreich der 1960er ist dieser im Deutschland der Gegenwart angesiedelt und erzählt anstatt von einer mehrere Jahre umspannenden Freundschaft von einigen Wochen aus dem Leben einer kleinen queeren Freundesgruppe.
Als eine junge Frau dieser ungewollt schwanger wird, entscheidet sie sich für eine Abtreibung. Eine ihrer engsten Freundinnen, die sich mit ihrer Partnerin schon lange Nachwuchs wünscht, schlägt vor, das Kind gemeinsam großzuziehen. Ein Vorschlag der intimste Auswirkungen auf ihre Freundschaft, die Menschen, um sie herum, und die eigene Selbstbestimmung entwickelt. Emilie Girardin und ihrem Team gelingt ein empathisches und selbstbewusstes, niemals belehrendes Spielfilmdrama, welches in erster Linie Menschen sieht, und nicht nur Figuren.
Menschen, die einander vertrauen, lieben, innig verstehen, aber auch verunsichern. Menschen, die selbstbestimmt leben, tanzen, Grenzen setzen, Kinder wollen. Und Menschen, denen bei all den Dingen nicht nur bürokratische Steine in den Weg gelegt werden. Nüchtern beobachtet entspinnen sich die Perspektiven verschiedener Charaktere, ohne Nebenfiguren, die unmittelbar mit den Entscheidungen und Entwicklungen der Hauptakteur*innen verbunden sind, dabei aus den Blick zu verlieren. Wenngleich nicht jedes Schauspiel, nicht jede Emotion in den vielen eindringlich gefilmten Close-ups gleichermaßen überzeugend ist, füllen die Darsteller*innen, darunter Tirza Ben Zvi, Daniela Castillo und Anngret Schultze, die Namensgeber*innen ihrer Figuren sind, das knapp achtzigminütige Drama mit kluger, emotionaler Tiefe.
Gesprächen unter Freunden stehen Gespräche bei Ämtern gegenüber, welche nicht nur nüchtern gegenwärtige Bestimmungen des Abtreibungsgesetzes, sondern auch andere intersektionelle Barrieren multinationalen Lebens in Deutschland umreißen. Ausdauerwillen und Resilienz treffen Sehnsüchte und weitere Facetten der komplexen Gefühlswelten, wiederholt unterstützt von einer einfühlsamen Lichtsetzung und dosiert einfließender Musik. Und obwohl die Kamera häufig stillsteht, gewinnt sie an den richtigen Stellen an Dynamik und vertieft in Schlüsselmomenten das lebendige Freund*innengefüge.
Jenes zeichnet sich auch über den gegenseitigen Respekt und das Zuhören hinaus aus, etwa durch das problemlose Switchen zwischen verschiedenen Sprachen. Die ehrliche Beziehungskonstellation und Intimität, deren Grenzen der Film leise auszutasten versucht, bleiben zudem erfrischend frei von stereotypischen Charakterzeichnungen. Stattdessen stellt DIE EINE TANZT, DIE ANDERE NICHT jene Dinge in den Vordergrund, die das deutsche Kino leider noch zu oft verschwinden lässt: queere Lebensmodelle, weiblichen Zusammenhalt, multinationale/multilinguale Lebensrealitäten.
Fazit
DIE EINE TANZT, DIE ANDERE NICHT ist über viele Spielminuten ruhig und konzentriert in Szene gesetzt, steht unter seiner Oberfläche aber niemals still. Hinter Close-ups, dichten Farben, Terminen beim Amt und Tanzsequenzen brodeln Gedanken und Emotionen, die die zentralen Fragestellungen und Abwägungen unaufdringlich verdichten.
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Originaltitel | Die Eine tanzt, die Andere nicht |
Kinostart | 8.9.2024 |
Länge: | 78 minuten |
Produktionsland | Germany |
Genre: | Drama |
Regie | Emilie Girardin |
Kamera | Jannik Tesch |
Cast | Tirza Ben Zvi, Daniela Castillo, Quintus Hummel, Anngret Schultze |
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