Rezension
Mehr als 25 Jahre nachdem mit CENTRAL STATION bereits eines seiner ersten Werke ins Rennen um den Oscar für den Besten Internationalen Film ging, war es in diesem Jahr Walter Salles insgesamt zehnter, und erster Spielfilm seit 2012, der unter den nominierten Filmen stand. Anders als sein Roadmovie über die pensionierte Lehrerin Dora und den jungen Josué auf der Suche nach dessen Vater, der sich seinerzeit Roberto Benignis DAS LEBEN IST SCHÖN geschlagen geben musste, setzte sich sein aktuelles Werk gegen die filmischen Konkurrenten aus Deutschland, Mexiko, Estland und Dänemark durch. Nach Edward Bergers IM WESTEN NICHTS NEUES (2023) und THE ZONE OF INTEREST im letzten Jahr führt der Film zudem die Reihe an politisch-historischen Stoffen fort, wenngleich deutlich konventioneller als Glazers Oscargewinner.
Salles Adaption des gleichnamigen autobiografischen Romans von Marcelo Rubens, Sohn von Eunice Paiva, der Frau des brasilianischen Politikers Rubens Paiva und Hauptfigur des Films, ist zwar an politischer Aufarbeitung, insbesondere jener um die „Desaparecidos“, tausenden unschuldigen Bürgern, die verhaftet, entführt und ermordet wurden, interessiert, mit seinem Fokus aber nie auf die Politik oder die geschichtlichen Ereignisse konzentriert. Viel mehr steht die Geschichte der Familie selbst im Vordergrund, deren Vater (Selton Mello) zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur aufgegriffen wird und spurlos verschwindet. Der Sorge, dem aufkeimenden Widerstand gegen das Vergessen und dem Engagement seiner Frau Eunice (Fernanda Torres) folgt der Film durch die Jahrzehnte, mehr als zu skizzieren gelingt ihm jedoch selten.
Vom Strand ins Verhör
Dabei nimmt sich Salles im ersten Drittel des Films genügend Zeit, das Leben der Politikerfamilie einzuführen. In pittoresk beginnenden Vergangenheitseinblicken zeigt sich diese in erster Linie wie aus einem Erinnerungsalbum, das eingehende, lebendige Charakterzeichnungen und auch sein innerfamiliäres Reibungspotential künstlich kleinhält. Ähnlich idealisiert wirkt auch die privilegierte Sicht auf die treue Haushälterin, deren Konfliktpotential in wenigen Sätzen minimalisiert, im Laufe des Film ganz ausradiert scheint.

Für immer hier ©2025 Alile Onawale | VideoFilms | DCM
Zwar versucht sich die in verschiedenen Kapiteln über mehrere Jahrzehnte reichende Familiengeschichte auch Nebenfiguren wie den Kindern, insbesondere der ältesten Tochter, anzunähern, die Hauptakteurin der geradlinigen Erzählung bleibt ohne Frage Fernanda Torres. Ihrer Figur gilt die meiste Aufmerksamkeit, die sich überwiegend aus dem Konfliktmaterial rundum das Verschwinden des Vaters und weniger aus einem mehrschichtigen Figurenporträt zusammensetzt. Jenen Fokus auf die politischen Ereignisse versucht das Auf- und Verarbeitungsdrama mit persönlichen Facetten auszufüttern, leider ohne die Perspektive des Vaters, jene anderer Betroffener oder die Mechanismen des Machtapparates ebenfalls zu umreißen.
Der Keim des Schreckens
Von der Intensität, mit der etwa der deutsch-iranische Mitstreiter im Rennen um den Oscar DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS das iranische Regime und dessen zermürbende Auswirkung auf eine Familie kanalisierte, ist Salles Beitrag deutlich entfernt, weil er eine melodramatische, kalkulierte Art und Weise einer intensiven, kompromisslosen oder wagnisbereiten Erzählung vorzieht. Die Schrecken von willkürlichen Verhaftungen, Verhören und Ermordungen finden zwar durchaus Platz in der vor allem im finalen Akt an Spannung einbüßenden Familienchronik, sind jedoch selten über ihre Funktion als Spannungselemente hinaus ausgearbeitet.

Für immer hier ©2025 Alile Onawale | VideoFilms | DCM
Für immer bleiben in der Romanverfilmung letztlich nicht nur die Erinnerungen an das gemeinsame Leben vor dem Verschwinden des Familienvaters, mindestens genausolang verharren die Erinnerungen an den Schrecken, der selten konkrete Gestalt annimmt. Im Gegenteil zu der immer wieder formelhaft anmutenden Inszenierung und Erzählweise, die sich kaum ins Gedächtnis brennen. Hätten andere Oscar-Auszeichnungen der letzten Jahre nicht versucht aus dem Rahmen auszubrechen, dann würde Salles Romanverfilmung inklusive melodramatischen Soundtracks gut in ein Oscar-Korsett passen. Die Brisanz der Thematik (Texttafeln verraten, dass bis heute keiner der Täter wirklich zur Verantwortung gezogen wurde) wird dadurch nicht geringer, verlangt aber nach einer noch konsequenteren und auch mutigeren Auseinandersetzung in filmischer Form.
Fazit
Walter Salles erster Spielfilm seit dreizehn Jahren bietet jahreumspannendes Familiendrama statt einen aufwühlenden Politthriller und entpuppt sich als geradlinig und ausgedehnt erzählter Oscargewinner, der seine brisante Thematik nur formelhaftes Leben einhauchen kann, aber von einer starken Hauptdarstellerin durchaus getragen wird.
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Originaltitel | Ainda Estou Aqui |
Kinostart | 19.9.2024 |
Länge: | 135 minuten |
Produktionsland | Brazil |
Genre: | Drama | Historie |
Regie | Walter Salles |
Executive Producer | Juliana Capelini | Renata Brandão | Thierry de Clermont-Tonnerre | Masha Magonova | Lourenço Sant'Anna | David Taghioff | Guilherme Terra |
Producer | Maria Carlota Fernandes Bruno | Walter Salles | Rodrigo Teixeira | Martine De Clermont-Tonnerre | Olivier Père |
Kamera | Adrian Teijido |
Visual Effects | Claudio Peralta |
Musik | Warren Ellis |
Cast | Fernanda Torres, Selton Mello, Valentina Herszage, Bárbara Luz, Guilherme Silveira, Cora Mora, Luiza Kosovski, Pri Helena, Luiz Bertazzo, Maeve Jinkings, Humberto Carrão, Dan Stulbach, Carla Ribas, Maitê Padilha, Camila Márdila, Thelmo Fernandes, Fernanda Montenegro, Augusto Trainotti, Olívia Torres, Antonio Saboia |
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