Review Fakten + Credits


Vier Jahre nach seiner Fahrt entlang der italienischen Küste, welche Pier Paolo Pasolini im Auftrag einer Zeitschrift in Texten und Bildern festhielt, begab sich der italienische Filmemacher und Publizist erneut auf Reise durch sein Herkunftsland. Diesmal nicht nur zu den Küstenregionen, sondern quer feldein aufs Land, nach Sizilien oder nach Florenz. Im Gepäck: allerhand Fragen, rundum Liebe, sexuelle Vorlieben, die Rolle der Frau, Bedeutung von Ehe und Scheidung. Ein Aufsehen erregendes Vorhaben im Italien der 1960er Jahre, welches es neben anderen Werken des Regisseurs in der bald erscheinenden Pier Paolo Pasolini Collection von Plaion Pictures zu sehen gibt.

Darum geht es

1963 sammelt Pier Paolo Pasolini Stimmen und Eindrücke unterschiedlichster Bewohner*innen Italiens und deren Einstellung zur Liebe und diversen L(i)ebensweisen. Unterfüttert werden die interviewbasierten Eindrücke und Ergebnisse sämtlicher Altersklassen unter anderem von Gesprächen mit Freunden und Experten wie Cesare Musatti und dem Auftreten und Kommentar des bekannten Regisseurs selbst …

Pier Paolo Pasolini Collection Cover

Pier Paolo Pasolini Collection ©2022 Plaion Pictures

Rezension

Pasolini beginnt bei den Jüngsten, bei Kindern, die er danach fragt, wo die Babys herkommen. Von der ersten Infragestellung märchenhafter Erzählungen weitet er seinen Blick erst auf die Jugend und schließlich auf Mitglieder jedweder Generation, die ihm vor der Kamera landet. In seiner ersten eigenständigen Langfilm-Dokumentation gelingt ihm ein Alters- und geografischer Querschnitt, welcher insbesondere als themenbezogenes Zeitdokument reizvoll ist.

Er trifft Menschen an belebten Orten: am Badestrand, auf Feldern und offener Straße. Beginnt er einmal ein Gespräch, entstehen kleinere und größere Menschentrauben um ihn herum. Menschen, die ihm zuhören und ihre Meinung teilen wollen. „Die Leute werden“, so sagt es ein hinzugezogener Freund und Experte in Hinblick auf die freizügige Thematik des Films sinngemäß, „entweder nichts sagen oder lügen.“ Und doch zeigen viele ihr Mitteilungsbedürfnis, wenn Pasolini Stichworte wie Homosexualität oder Ehescheidung in den Raum wirft. Dann wird die Dokumentation zum Gruselkabinett herabwürdigender Aussagen, die, was noch unheimlicher ist, heutzutage immer noch den ein oder anderen Zuspruch finden.




Road-Trip in Graustufen

Pasolini lässt die Leute unaufdringlich reden, hakt nach, ohne sie direkt mit ihren diskriminierenden, menschenfeindlichen Gedanken zu konfrontieren. Es entsteht ein Stimmungsbild, welches Unterschiede zwischen Generationen und sozialen ökonomischen Herkünften skizziert, ein breites Bild Italiens und eine Handvoll sexualität- und geschlechterbezogener Thematiken abzudecken versucht. Puzzleartig fügen sich diese verschiedenen Kapitel zusammen, weil Pasolini die Experten nur oberflächlich und mit psychologischen Ansätzen zu Wort kommen lässt, den größten Redeanteil aber den unterschiedlichsten Menschen seiner Straßenumfragen überlässt.

GASTMAHL DER LIEBE zeigt die machtvollen Strukturen von Sitte und Tradition, die tiefe Verwurzelung diskriminierender Mechanismen in einem patriarchal gefestigten, streng katholischen Land. Viele der angesprochenen Themen waren ihrerzeit Tabu. Erst sechs Jahre nach Erscheinen des Films führte Italien die Ehescheidung gesetzlich ein. Pasolini scheute die Ansprache nicht, das Herausfordern von Normativität und Sitte im Rahmen seiner damaligen Möglichkeiten. Im Gegenteil: auf ungezwungene Art und Weise inszeniert und führt der spätere Skandal-Regisseur durch die Dokumentation, ordnet in Off-Texten ein und greift nur in besonders schwerwiegenden Fällen zur Selbstzensur.

Fazit

GASTMAHL DER LIEBE ist ein kurzweilig fesselndes, in Schwarzweiß gefilmtes Zeitdokument. Ein Themen- und Umfragenmosaik inklusive zungenfertigen Interviewer, nicht weniger aktuellen Gedanken und Einblicke in Gesellschaftsteile des Italiens der 1960er.

 

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