Bewertung Michel Rieck

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Originaltitel: Gipsy Queen
Kinostart: 25.06.2020

FSK 12

FSK 12 ©FSK

Länge: ca. 113 Minuten
Produktionsland: Deutschland | Österreich
Regie: Hüseyin Tabak
Schauspieler: Alina Serban | Tobias Moretti | Irina Kurbanova
Genre: Drama | Sport
Verleiher: Majestic-Filmverleih

Gipsy Queen

Gipsy Queen ©2020 Majestic Filmverleih

Besser könnte es kaum laufen für den Österreicher Tobias Moretti, dessen großer Karriereeinstieg 1994 durch die Serie Kommissar Rex eröffnet wurde. Der demnächst 61-Jährige hat sich in seiner Schauspielkarriere immer für die kleinen, aber feinen Rollen entschieden und sich damit ein Denkmal in der deutsch/österreichischen Filmlandschaft gesetzt. Gerade in den letzten paar Jahren hat er noch einmal mit einigen nennenswerten Produktionen nachgelegt und unter anderem im neusten Terrence Malick Film EIN VERBORGENES LEBEN mitgewirkt. Auch im zuletzt hochangesehenen DEUTSCHSTUNDE ist er zu sehen gewesen. Für GIPSY QUEEN schlüpft er in die Rolle von “Tanne“, welche angelehnt ist ein das Vorbild Hanne Kleine, der den Hamburger Nachtclub „Zur Ritze“ gegründet hat.

Dieses Lokal befindet sich in St. Pauli und ist vor allem bekannt durch seine auffällige Eingangstür, die sich im Zentrum zweier aufgemalt gespreizter Frauenbeine befindet. Zudem gibt es im Keller des Lokals einen Boxraum, der den verschiedensten Boxlegenden als Trainingshalle diente. Seit der Eröffnung im Jahr 1974 gilt dieser Laden als einer der bekanntesten Kneipen des Bezirks.

Gipsy Queen

Gipsy Queen ©2020 Majestic Filmverleih

Darum geht es…

Nachdem die junge Mutter Ali in ihrer Heimat Rumänien keine Hoffnung mehr sieht, beginnt sie ein neues Leben in Deutschland. Notdürftig teilt sie sich zusammen mit ihren zwei Kindern eine Wohnung mit einer weiteren Frau und tut alles dafür, um an Geld zu kommen. Ihre WG-Partnerin ist als Bühnenschauspielerin tätig und daher sehr von Aufträgen abhängig, doch die Miete muss natürlich bezahlt werden, weshalb sich Ali dazu hinreißen lässt schwere körperliche Arbeiten zu übernehmen. Doch deutlich bessere Aussichten entwickeln sich als sie als Putzkraft in der Hamburger Kultkneipe „Zur Ritze“ beginnt zu arbeiten. Dort lernt sie Inhaber Tanne kennen, der im Keller regelmäßig Boxkämpfe organisiert und ausrichtet. Auch Ali war in ihrer Heimat eine namhafte Boxerin, bis sie diesen Sport für ihre Kinder aufgab. Tanne erkennt jedoch ihr Potential, woraufhin sie gemeinsam beginnen das Leben der jungen Frau auf den Kopf zu stellen.

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Rezension

Und wieder einmal wird bewiesen, dass das deutsche Kino noch lange nicht tot ist. Neben unzähligen immer gleichen Krimis und fremdschämenden Komödien, gibt es noch immer einige talentierte Regisseure wie Hüseyin Tabak, die beweisen, dass lokale Filme ebenfalls stark inszeniert sein können, eine gute Geschichte besitzen, die sich auch abseits der Weltkriege entwickelt und die Menschen mitreißen können. Im Grunde ist GIPSY QUEEN mit nur wenigen Worten beschreibbar: ROCKY mit Herz. Es handelt sich hierbei um eine klassische Boxergeschichte, wie ich sie schon etliche Male zu Gesicht bekommen habe. Der wesentliche Unterschied hingegen ist, dass es sich hierbei fast schon um ein Sozialdrama handelt, in dem die sportliche Boxerkarriere nur eine leichte Nuance ist, die das gesamte Drama perfekt abrundet.

Gipsy Queen

Gipsy Queen ©2020 Majestic Filmverleih

Während der Anfang recht langsam und unattraktiv eröffnet wird, entwickelt sich doch recht schnell eine Sympathie für die Hauptdarstellerin Alina Serban, die es schafft ehrlich und überzeugend eine Mutter zu mimen, die sich mit Laib und Seele um ihre Kinder sorgt und einfach alles für diese tun würde. Gleichzeitig wird jedoch auch aufgezeigt, das eben jene Aufopferung ein psychisches Dilemma zur Folge hat, welches dafür sorgt, dass jegliche Mühen sich letztlich immer weiter vom eigentlichen Ziel, der Glückseligkeit für die Familie, entfernen. Es wird ein harter Kampf, nicht nur im Boxring, sondern auch mit dem eigenen Familienzusammenhalt ausgefochten, in welchem die Mutter nur wenige Chancen auf einen Sieg hat.

Unantastbar ehrlich

Hüseyin Tabak schafft es mit viel Fingerspitzengefühl perfekt auf dem Grat zwischen Drama und Sportepos zu wandeln und eine vielschichtige Geschichte zu etablieren, die durch kleine gekonnte dramaturgische Spitzen absolut überzeugen kann. Zu keinem Zeitpunkt wirkt irgendetwas der Handlung erzwungen oder beabsichtigt. Stets bekommen wir einen Einblick in vermeintlich spontane Handlungen, als wäre das Filmteam dokumentarisch aktiv gewesen. Besonderer Erfolgsgarant dabei ist die harmonische Zusammenarbeit der beiden Protagonisten Alina Serban und Tobias Moretti, deren Rollenzusammenführung gerne auch mit MILLION DOLLAR BABY verglichen wird.

Gipsy Queen

Gipsy Queen ©2020 Majestic Filmverleih

Frau Serban ist selbst eine rumänische Darstellerin, die hier eine Frau verkörpert, die als Immigrantin Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat, sich jedoch redlich bemüht ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten und ihnen daher unablässig eintrichtert die rumänische Sprache zu vernachlässigen und somit die Deutsche zu trainieren. Als perfekter Gegenpol zeigt uns Tobias Moretti einen klassischen Hamburger-Jung, mit bestem hamburgischem Dialekt und der liebevollen Offenherzigkeit, für die die Menschen in Norddeutschland bekannt sind. Seine flapsige und situationsbedingte Art ist ebenfalls ein spannender Kontrast zum sehr kontrollierten und distanzierten Auftritt der Protagonistin. Mit diesen Charaktereigenschaften wird die eher trockene Geschichte viel geschmeidiger und anschaulicher und es entsteht eine angenehme Leichtigkeit, die fesselnd auf den Zuschauer wirkt.

Das Streben nach Glück

Mit fortlaufender Entwicklung der Handlung ist es immer weniger möglich der Story zu entfliehen und das Bedürfnis steigt immer weiter an, dieser gutmütigen Frau, die im Leben nichts böses getan hat und allen Menschen nur das Beste wünscht und bietet, selbst einen Funken von Glück entgegen zu bringen. Tatsächlich wird dieser sehnsüchtige Wunsch jedoch nie erfüllt, denn letztlich bekommen wir einen absoluten Geniestreich zu sehen, der mich wieder mal vollends begeistert hat. Letztlich wird uns nämlich ein weitestgehend offenes Ende präsentiert, welches unser Bedürfnis der gefühlstechnischen Befriedigung an einer nahezu perfekten Stelle einfach offenhält und diesem somit keine Erfüllung bietet. Somit fühlte ich mich um ein hervorragendes Ende betrogen und gleichzeitig überwältigt, weil einfach nicht der klassische Fehler deutscher Filmproduktion gemacht wurde, in welcher das Ende bis zum letzten Tropfen ausgeschlachtet wird.

Gipsy Queen

Gipsy Queen ©2020 Majestic Filmverleih

Dennoch muss ich ehrlich sagen, dass ich sehr auf einen zweiten Teil hoffe, auch wenn dieser Wunsch wohl nie erfüllt werden wird. Gerne möchte ich noch mehr über die Figur der Ali erfahren und wissen, wie sich ihr Lebensweg weiterentwickelt. Meiner Ansicht nach wurde hier beinah alles richtig gemacht und es gibt kaum Ansatzpunkte, die Raum für Kritik lassen, denn auch wenn die Bilder erst einmal nicht ganz so ansprechend wirken zu Beginn so bekommen wir im entscheidenden Moment sogar ein faszinierenden längeren One-Take geliefert, der die ohnehin schon starke Handlung perfektioniert. Und als kleine Randerscheinung bekommen wir noch Jürgen Blin zu sehen, der selbst ein professioneller Boxer war und und im Jahr 1971 gegen Muhammad Ali antrat und erst in der siebten Runde auf die Bretter ging.

Boxen ist nicht ganz so euer Sport, doch ihr liebt fesselnde Dramen? Dann ist GIPSY QUEEN womöglich eine spannende Wahl für euren nächsten Kinobesuch. Zwar dreht sich die grundlegende Handlung schon um die Boxsportart, doch bekommen wir in diesem Film so viel mehr zu sehen. Dieses Werk ist am besten zu beschreiben durch: ROCKY mit Herz. Wir bekommen eine Figur zu sehen, die sich nicht für den Sport ihr ganzes Leben aufopfert, sondern ihre Träume hinter sich lässt, um ihrer Familie ein glückerfülltes Leben bieten zu können. Wir bekommen einen Film, in dem soziale Probleme vor allen sportlichen Erfolgen zu finden sind. Und dennoch bekommen wir auch einen Film, der uns auf den Weg der brennenden Leidenschaft einer Powerfrau mitnimmt und uns abseits jeglichen Erfolgs und Glanzes eine ehrliche und unverblümte Story erzählt, die es dennoch schafft, in jeder Sekunde zu begeistern. Beide Hauptdarsteller entwickeln eine spannende Dynamik und harmonieren glänzend, vor allem, weil Tobias Moretti mit seiner nordischen Art eine ganz besondere Leichtigkeit und Glaubwürdigkeit erzeugt. Zudem wird der Zuschauer verwöhnt mit tollen Aufnahmen, die zwar etwas auf sich warten lassen, doch gerade gen Ende hin das Können des gesamten Filmteams beweisen. Ebenso präsentiert uns Regisseur Hüseyin Tabak ein, meiner Ansicht nach, grandioses Ende, welches ich in dieser Qualität nur selten zu Gesicht bekommen habe. Mir ist es ein persönliches Bedürfnis GIPSY QUEEN zu empfehlen, weil ich einfach die angstvolle Vermutung habe, dass solch eine kleine Filmperle letztlich untergehen wird am hart umkämpften Filmmarkt.

Gipsy Queen

Gipsy Queen ©2020 Majestic Filmverleih