FilmkritikFakten + Credits
Grand Jeté

Grand Jeté ©brave new work

Von der Eleganz des Grand Jete, einem Spagatsprung im klassischen Ballett, ist in der Bildsprache des gleichnamigen Berlinale-Beitrages nur hin und wieder etwas zu erkennen. Diese ist überwiegend unstilisiert und rau, häufig nur auf bestimmte Ausschnitte von Orten und Personen konzentriert und begleitet die anstößige Handlung eher zurückhaltend. Basierend auf Anke Stellings Roman „Fürsorge“ bricht Isabelle Stevers neuster Film nach DAS WETTER IN GESCHLOSSENEN RÄUMEN mit Sehgewohnheiten und filmischen Konventionen, spielt mit Tabubrüchen und kann sein Publikum damit mehr als einmal verunsichern.

Darum geht es…

Um sich voll und ganz einer Karriere als Balletttänzerin zu widmen, ließ Nadja ihren Sohn Mario im jungen Alter bei ihrer Mutter zurück. Nach jahrelanger Distanz und einsetzender beruflicher Entfremdung trifft sie den mittlerweile jungen Mann bei einer Familienfeier wieder. Beide fühlen sich zueinander hingezogen und aus ihren Begegnungen entwickelt sich zunehmend ein leidenschaftliches Verhältnis. Eine körperliche und sinnliche Erfahrungen folgt der nächsten, die moralischen Konventionen aus ihren Schranken reist …

Rezension

In schnörkellos eingefangenen Anfangsminuten lässt GRAND JETÉ noch nicht vermuten, welche Explizität und Tabubrüchigkeit ihm später Inne wohnen wird. Da ist die Geschichte rundum eine Balletttänzerin, die weder Erfüllung noch Befriedigung aus ihrer künstlerischen Arbeit schöpft, rückblickend fast bedeutungslos. Vordergründig behandelt der Film das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn auf ambivalente Art und Weise. Einerseits zeigt er die inzestöse Beziehung unmissverständlich auf, andererseits scheint er den Protagonisten ihre familiären Rollenbilder entziehen zu wollen, in dem er sie nach jahrelanger Abstinenz als Fremde aufeinandertreffen lässt.

Grand Jeté

Grand Jeté ©brave new work

Nadja sehnt sich nach Emotionen und Erlebnissen, die ihre jahrelangen Investitionen ins Ballett wohl missen ließen. Sie scheint ihren Körper aufs Neue spüren, in ihrem Sohn Mario das Ursprüngliche finden zu wollen. Ihre aufgestauten (Mutter-)Gefühle entladen sich in hemmungslosen, rein körperlichen Annäherungsversuchen, denen meist ausdrucksstarke Blicke der Schauspielerin Sarah Nevada Grether vorausgehen. Und dennoch begegnen sich die Figuren auch abseits ihres eigentlich unbestreitbaren Verwandtschaftsverhältnisses als Menschen, gefangen in eigenen Lebenswelten. Die des Sohnes Mario besticht am ehesten durch ihre Unzugänglichkeit. Wirklich nahbar ist die von Emil von Schönfels gespielte Figur selten, sein Charakter undurchsichtig und schwer zu begreifen. Inmitten dem Verhältnis von Gefühlskälte, die die Gespräche zwischen ihm und seiner Mutter insbesondere auszeichnen und den expliziten Intimszenen, sind stringente und nachfühlbare Figureneinsichten kaum möglich.

GRAND JETÉ stürzt sich zunehmend in Szenenabläufe abseits von Moralvorstellungen. Weder werden die Geschehnisse dabei glorifiziert noch umjubelt, vielmehr gleicht die Inszenierung einer unbequemen und bewusst skandalösen und kompromisslosen Bestandsaufnahme. Mit seiner unkonventionellen Ausstrahlung, seinen starken Schauspieler*innen, den getrübten Charakterzügen und leidenschaftlichen Inzest-Liebeleien wirft der Film sein Publikum in ein weites Spannungsfeld expressiver und packender Momente auf der einen und unbequemer und obszöner, abstoßender und wenig greifbarer Momente auf der anderen Seite.

Fazit

Isabelle Stevers war sich der Unverfilmbarkeit der literarischen Vorlage bereits im Vorfeld der Produktion bewusst. Mit GRAND JETÉ schafft sie einen Film, der sich Themen mutig annimmt, in seiner Radikalität aber nur selten beeindruckt. Gedanken- und Gefühlswelten sind nur unvollständig unterfüttert, das Drama verzichtet auf emotional eindeutige Stützpunkte. Ein unbequemes Stück Film, welches seine Darsteller*innen ebenso fordert, wie es das Publikum mühsam über 105 Minuten hinauszieht.

Wie hat Dir der Film gefallen?
1 Stern2 Sterne3 Sterne4 Sterne5 Sterne6 Sterne7 Sterne8 Sterne9 Sterne10 Sterne (8 Bewertungen, Durchschnitt: 7,88 von 10)

Loading...

Originaltitel Grand Jeté
Berlinale – Release 11.02.2022
Berlinale – Sektion Panorama
Länge ca. 105 Minuten
Produktionsland Deutschland
Genre Drama
Verleih unbekannt
FSK unbekannt

Regie Isabelle Stever
Drehbuch Anna Melikova | Anke Stelling
Produzierende Olga Dykhovichnaya | Mohammad Farokhmanesh
Kamera Constantin Campean

Besetzung Rolle
Sarah Nevada Grether Nadja
Emil von Schönfels Mario
Susanne Bredehöft Hanne
Stefan Rudolf Daniel
Ellen Müller Andrea
Maya Kornev Sofia
Jule Böwe Doris
Eva Medusa Gühne Annegret
Carl Hegemann Herrmann
Sina Koburg Studiomädchen
Lukas Lonski Moderator
Anne Presting Zahnärztin
Anke Stelling Geburtshelferin

 

Wie hat Dir der Film gefallen?
1 Stern2 Sterne3 Sterne4 Sterne5 Sterne6 Sterne7 Sterne8 Sterne9 Sterne10 Sterne (8 Bewertungen, Durchschnitt: 7,88 von 10)

Loading...