Rezension
Vor dem Flugzeugfenster ziehen Wolkenteppiche vorüber, darunter glaubt der junge Nur endlich das langersehnte Ziel Schweden zu entdecken. Lächelnd berichtigt ihn sein Großvater, sagt, es sei Belarus, ein Zwischenstopp, aber nicht das Ende ihrer langen Reise. Jene offenbart ihre Bürde erst nach der Landung mit dem Flugzeug beim Durchqueren der ersten Stacheldrahtgrenze. Eine Blume zum Abschied aus dem Flugzeug ist eine der letzten freundlichen Gesten, die die Familie von fremden Menschen erfahren. Ihr Alltag in der titelgebenden Grenzzone verliert so schnell an freundlichen und zugewandten Gesichtern wie die Aufnahmen des grünen Waldes zu Beginn an Farbe.
In eindringlichen Schwarz-Weiß-Aufnahmen und eng an ihren Protagonist*innen folgt die preisgekrönte Regisseurin dem Weg einer syrischen Familie und einer Afghanin durch das belarussisch-polnische Grenzgebiet, in welchem Menschenrechte längst im Matsch begraben sind. Hoffnung klebt an Handys und dem Kontakt zu Verwandten im Ausland, doch erstere verlieren an Akku und letztere an Kontaktmöglichkeit. Sie äußert sich aber auch an dem klaren Ziel vor Augen, der ersten Freude über das Erreichen Europas und einer Handvoll Sätze in Englisch, die dem Sohn auf dem Weg beigebracht werden: Ich heiße Nur. Ich komme aus Harasta. Ich möchte in Europa bleiben.
Binnen kurzer Zeit fallen diese Sätze förmlich auseinander. Für die Grenzwächter ist der Name der Geflüchteten unerheblich, ihr Herkunftsland sowieso und der Wunsch nach Sicherheit in Europa nahezu wertlos. Auf belarussischer Seite werden die Schutzsuchenden ausgebeutet, ihre Helfenden auf polnischer Seite drangsaliert und eingeschüchtert. Nicht nur im ersten von mehreren kompromisslos, aber ebenso empathisch eingefangenen Kapiteln konfrontiert Holland das Publikum mit einem rassistischen und xenophoben Grenzapparat und Wächtern, die die Ankommenden längst nicht mehr als Menschen, sondern als Druckmittel oder lebendige Geschosse verstehen.
Barfuß durch die Hölle
Die Perspektive jener, die von den Soldaten gedemütigt und ausgebeutet werden, bleibt jedoch nicht die einzige Perspektive der breitgefächerten Einsichten, die sich häufiger als um politische Diskussionen und Abstraktionen um Menschen und deren Schicksale vor Ort dreht. Mit dem zweiten Kapitel erweitert das nachdrücklich bebilderte Drama das Gegenwartsporträt um den Blickwinkel eines jungen Mannes am Grenzschutz Podlachien, mit dem dritten und vierten um den einer Aktivistin und einer Psychologin, die Geflüchteten ihre Hilfe anbieten. Ineinander verschlungen verdichten sie die in ihrer Länge durchweg aufwühlende und Vereinfachungen überwiegend umschiffende Erzählung, welche das Schicksal ihrer Protagonist*innen nie für sensationsgierige Schockmomente malträtiert.
Der Schrecken der humanitären Krise vergegenwärtigt sich ohnehin in allen Perspektiven, ähnlich wie die geringe Wirkmacht oder die Machtlosigkeit der einzelnen Figuren. Machtlos gegenüber politischen Entscheidungen und Medien, die ein aggressives, einseitiges Bild der Menschen zeichnen, die eigentlich nur ums Überleben kämpfen. Die Aktivist*innen und Schutzsuchenden eint der Kampf gegen rassistische, menschenfeindliche Strukturen, eurozentrischen Hochmut und tödliche Ausgrenzung, Desinformationen sowie ihr Bemühen, Ringen und Scheitern angesichts aufdiktierter Bestimmungen. Die Bilder von Tomasz Naumiuk mögen keine neuen enthüllenden Einblicke in die Lage der Menschen vor Ort geben, stellen aber nicht nur in Momentaufnahmen, wie jener von Geflüchteten, die an einer Hauswand unter einer im Schwarz-Weiß verblassenden EU-Flagge sitzen, ihre dringliche Wirk- und Aussagekraft unter Beweis.
Grenzgänger und Grenzgängerinnen
Die Hoffnungen auf eine problemlose Einreise sind zerplatzt, ebenso die Hoffnung, den Ankommenden umfangreich und konfliktlos helfen zu können. Kleine Momente, die schweigsame Allianz bei einer Polizeikontrolle, die Ultraschalluntersuchung einer Schwangeren im Wald, geben Versprechen an eine bessere Zukunft, sind in der europäischen Koproduktion aber nie so verlässlich wie die menschengemachten Grausamkeiten. Obwohl der Film die Geschichten einzelner Figuren in den Vordergrund rückt, verliert Holland nie den Blick auf größere gesellschaftliche und politische Entwicklungen wie die Folgen des erstarkenden Rechtspopulismus und der repressiven Abschottungspolitik. Die Dringlichkeit der weniger analytischen, dafür nahbaren Aufzeichnungen lässt sich unter anderem aus den Reaktionen lesen: vergangenes Jahr wiesen Mitglieder der PiS-Regierung den Film als antipolnische Propaganda zurück.
Dabei geht Hollands Plädoyer an die Menschlichkeit weit über die Grenzen des eigenen Nationalstaates hinaus und kommt außerdem nicht umhin, mit einem abschließenden Ausrufezeichen aus dem von Morast und Menschenverachtung durchsetzten Kinostück zu entlassen. Ein Epilog spannt den Bogen zu einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit: Dem Beginn des Ukrainekrieges und der Fluchtbewegung, die seit 2022 die Grenze Polens passiert. Der bekannte Grenzwächter ist nun anderer Stelle postiert, hilft den Geflüchteten, deren Gesichtsausdrücke und Schicksale ähnliches Leid ausdrücken wie jene, die er im ersten Drittel des Films noch zu verabscheuen gelernt hat.
Die Bilder bleiben grau, die Fluchtgeschichte der Ankommenden nicht weniger traumatisierend, doch die Reaktionen sind andere. Der letzte Atemzug einer zweieinhalb stündigen Tour de Force ist ein knapper, provokanter und klagender Ausruf, der seinen eigenen Film verlangt. Die angerissene und vor einigen Jahren auch in Deutschland zu beobachtende Ungleichbehandlung Geflüchteter thematisiert die Folgen eines rassistischen Systems und einer nicht minder diskriminierenden Gesellschaft, wenngleich zu kurz, um diesem Problem hinreichend gerecht zu werden. Es nicht zumindest einmal anzuschneiden, wäre jedoch ebenso fatal gewesen.
Fazit
Taschenlampenlichter irren durch den finsteren Wald, schimmernd wie die Hoffnungen, die die Menschen am Grenzübergang haben. Beides erlischt schonungslos in nahbaren Figuren- und Alltagseinblicken, die die Agnieszka Holland mit monochromer Bildkraft, einem konstant eindringlichen Schauspielensemble und einfühlsamen wie zermürbenden Aufnahmen festhält.
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Originaltitel | Zielona granica |
Kinostart | 22.9.2023 |
Länge: | 152 minuten |
Produktionsland | Belgium |
Genre: | Drama |
Regie | Agnieszka Holland |
Executive Producer | Jeff Field | Daniel Bergmann | Mike Downey | Emir Külal Haznevi |
Producer | Fred Bernstein | Agnieszka Holland | Marcin Wierzchosławski | Aleksandra Leszczyńska | Beata Ryczkowska | Šárka Cimbalová | Małgorzata Seck | Marek Kłosowicz | Michał Kosmala | Diana Elbaum | Magdalena Ulejczyk | David Ragonig | Dominika Kulczyk | Anna Spisz | Maria Blicharska |
Kamera | Tomasz Naumiuk |
Musik | Frédéric Vercheval |
Cast | Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Atai, Tomasz Włosok, Mohamad Al Rashi, Dalia Naous, Jaśmina Polak, Monika Frajczyk, Maciej Stuhr, Agata Kulesza, Aboubakr Bensaïhi, Michał Zieliński, Joely Mbundu, Malwina Buss, Piotr Stramowski, Marta Stalmierska, Sandra Korzeniak, Magdalena Popławska, Talia Ajjan, Taim Ajjan |
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