Bereits in ihrem Spielfilmdebüt THE CLOUD IN HER ROOM (aktuell im Programm des Streaminganbieters MUBI enthalten) schuf die chinesische Regisseurin Zheng Lu Xinyuan eingehende wehmütige Schwarzweiß-Bilder in einem modernen Mikrokosmos. Eine monochrome Ästhetik, die sie erneut in ihrem ersten dokumentarischen Langfilm aufgreift und welche sich einmal mehr als visueller Gewinn herausstellt. JET LAG führt in eine unweit zurückreichende Vergangenheit, in der ein Virus begann, sich auf der ganzen Welt auszubreiten. Der Beitrag im diesjährigen Berlinale Forum ist ein unzuverlässig erzähltes filmisches Tagebuch, welches sowohl aktuelles und vergangenes Weltgeschehen als auch tief verwurzelte Familienangelegenheiten streift.
Darum geht es…
Im April 2020 verläuft die Reise in ihr Heimatland alles andere als gewöhnlich: die Länder und Städte, Flugverbindungen und Hotels sind im Ausnahmezustand. Menschen in Schutzanzügen, Sirenenklang und warnende Durchsagen auf offener Straße, die Hotelzimmertüren werden bei der Einreise vorsorglich mit Klebeband versiegelt. Abseits der Absonderung trifft Zheng Lu Xinyuan auf Familie, Freunde und Bekannte sowie die Vergangenheit naher Verwandter. In Gesprächen lässt sie dabei eine Reise der Familie in den 1940er Jahren nicht mehr los. Eine Reise von China nach Myanmar, von der ihr Urgroßvater nie zurückgekommen ist …
Review
Dieser JET LAG irritiert zwar nicht den Schlaf-Wach-Rhythmus seiner Zuschauer*innen illustriert besagten Zustand jedoch äußerst prägnant. In Kombination seiner unterschiedlichen Erzählebenen von Gegenwart und Vergangenheit zeigt er nicht nur eine unterschwellige Orientierungslosigkeit der inneren Uhr, sondern auch ein auf und ab an Gefühlen, die sich zur Zeit der Isolation und allgemeinen Beschränkungen akkumulieren. Da ergründet der Film in Texten und Fotoaufnahmen festgehaltene Erinnerungen und folgt seinen Protagonist*innen zu Touristenführungen, zeigt aber auch den besorgniserregenden Ausnahmezustand und berichtet im offenen Dialog von Depression und Suizidgedanken.
Zwischen den Graustufen von zersplitterten Handydisplays und regen Familienversammlungen wirken die alten Fotos und Tagebucheinträge weniger fern, als es die Jahre ihrer Erstellung erzählen. Auf spürsinnige Art und Weise und durch die Einbindung alter persönlicher Einträge verknüpfen sich gegenwärtige Aufeinandertreffen und banale Alltagssituationen mit eingehender Familienhistorie, ohne oberflächliche oder gar leichtsinnige Vergleiche zu ziehen. Viel mehr durchzieht ein Gefühl der Ohnmacht und Isolation beide Zeitebenen, in dem die Regisseurin, ohne eine klare Hauptfigur in sich selbst oder einem anderen Familienmitglied zu finden, unter anderem Gedanken zur privaten Erinnerungskultur anführt.
Das Ganze wäre nicht nur äußerst flickenhaft und undurchsichtig, sondern auch reizlos in Szene gesetzt, würde die Regisseurin nicht innerhalb kürzester Zeit ihre Bildsprache und Ästhetik (wieder-)finden. Die Spielereien mit Licht und Schatten erzeugen (alb-)traumhafte Bilder der Realität, finden eine Schönheit in scheinbar unerheblichen und nebensächlichen Alltagssituationen und verhelfen JET LAG mit seinen schweren, nicht immer ausformulierten Themen dennoch zu wirksamer Kraft. Diese reicht nicht über jede einzelne Minute der knapp zwei Stunden Laufzeit hinweg, sorgt jedoch zumindest für visuelle Variabilität.
Fazit
JET LAG erzählt in erster Linie von der Geschichte einer Familie und von variablen Gefühlszuständen, welche die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart überbrücken. In stilsicheren Schwarzweiß-Bildern vereint er Videotagebuch, Bestandsaufnahmen und intime Erinnerungskultur. Zheng Lu Xinyuans Erstling im Dokumentarfilmbereich ist visuell vielschichtig und inhaltlich nachdenklich, wenngleich nicht lückenlos und nicht frei von Längen.
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Originaltitel | Jet Lag |
Berlinale – Release | 11.02.2022 |
Berlinale – Sektion | Forum |
Länge | ca. 111 Minuten |
Produktionsland | Schweiz | Österreich |
Genre | Dokumentation |
Verleih | unbekannt |
FSK | unbekannt |
Regie | Xinyuan Zheng Lu |
Produktion | Ray Matin | Shanshan Li |
Musik | Tseng Yun-Fang |
Kamera | Zheng Lu Xinyuan | Zoe |
Schnitt | Zheng Lu Xinyuan | Xinzhu Liu |
Besetzung |
Lu Coco |
Lin Wenqing |
Lin Yucang |
Xinyuan Zheng Lu |
Zoe |
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