Oft konnte in den letzten Jahren das Gefühl entstehen, zeitgenössisches deutsches Kino bediene sich ausschließlich einer längst verstaubten und überbenutzten Ansammlung an Stil- und Genreelementen. Nebst der Dramedy ließen sich darin unter anderem eine emotionale Eltern-Kind-Beziehung, ein Un- oder Todesfall bzw. eine schwerwiegende Krankheit und ein nationales Schauspiel-Comedy-Sternchen in der Hauptrolle finden. Lena Stahls Debütfilm bedient sich nun ebenfalls vieler der hier aufgeführten Elemente und schafft dennoch einen Film, der sich gelegentlich anders anfühlt. Das liegt am stärkeren Fokus auf das vorherrschende Drama, den recht natürlichen Look (im Gegensatz zum Schweiger’schen Farbfilter) und vor allem an der Hauptdarstellerin, die ihr Comedytalent regelrecht abwirft und ihre ungewöhnlicheren Facetten ausbaut.
Dass Anke Engelke Multitalent und reichlich Sympathie mit sich bringt, ist keine Offenbarung der neusten Staffel LAST ONE LAUGHING auf Amazon Prime Video, in MEIN SOHN vielmehr eine beeindruckende Unterbeweisstellung ihres Könnens. Ihr gehört der Film und seine größten Stärken, die nicht immer über Probleme der Geschichte hinwegtäuschen, aber als deutlicher Zugewinn für den Film zu verzeichnen sind. In ganz neue und innovative Ufer traut sich der Film dennoch nicht vorzudringen, wird von den Verläufen und Eigenheiten anderer deutschen Produktionen eingeholt und offenbart gerade im Kontrast zu Engelkes Schauspielleistung und Charakterzeichnung große Schwächen. Der Film wirkt wie ein Auf und Ab zwischen ernsthaft und berührend in Szene gesetzten Drama und Zugeständnissen an ein Publikum, welches die thematisch seichte Auseinandersetzung und viele der eingangs umschriebenen Filme liebt.
Darum geht es
Ein schwerer Skateboard-Unfall reißt das kleine Familienleben von Mutter Marlene und ihrem Sohn Jason aus den Angeln. Der draufgängerische junge Mann liegt fortan im Krankenhaus und kann sich nur mühsam an seine neue Realität gewöhnen. Eine spezielle Reha in der Schweiz soll Jason helfen, sich mit den neuen Einschränkungen zu befassen und seine Genesung vorantreiben. Kurzerhand beschließt Marlene ihren Sohn selbst von Berlin ins Ausland zu fahren. Auf einem ungewöhnlichen Road-Trip wird nicht nur ihre Mutter-Sohn-Beziehung, sondern auch verschiedene (Lebens-)Vorstellungen auf eine Probe gestellt…
Rezension
Anke Engelke ragt nicht nur aufgrund der Ernsthaftigkeit und der Emotionalität ihrer Figur hervor, sondern auch durch die Greifbarkeit ihres Schauspiels. Mutter Marlene ist das Kernstück des Films, ihr Blickwinkel in verschiedensten Situationen des Road-Trips fokussiert. Im Mutter-Sohn-Gespann ist sie der Verstand und die Fürsorge zugleich, eine verletzliche und gefühlvolle, aber ebenso tatkräftige und energische Frau, deren Gefühlsausbrüche immer nachvollziehbar in die Geschichte einfließen. Selbiges gilt für ihre Ansichten und Vorstellungen in Hinblick auf ihren Sohn, die sich glaubhaft an ihre subjektiven Wahrnehmungen im Film anschließen.
Die Jugend von heute (?)
Weniger authentisch, um nicht zu sagen, nur schwer greifbar, fällt die Darstellung ihres Sohnes aus. Nicht nur, dass Jonas Dassler die Figur schon mit seinem Aussehen und seinem tatsächlichen Alter übertrifft, seine Figurenzeichnung passt selten so glaubwürdig ins Bild wie das seiner Filmmutter. Jason sieht aus wie Mitte 20, soll gut fünf Jahre jünger sein und benimmt sich wie ein Teenager zu Beginn der Pubertät: draufgängerisch, „cool“, eigensinnig – und für das Publikum stellenweise auch unerträglich. Jason ist in Sachen Unreife kaum zu übertreffen und in dieser Hinsicht unpassend überhöht.
Das Bild mag nicht mit dem gesprochenen, hippen Wortschatz und das Wort nicht mit dem Auftreten des jungen Mannes verschmelzen. In seiner Aufsässigkeit unreflektiert und weinerlichst er weder glaubhaft noch unterhaltsam und gerade zu Beginn ein wunder Angriffspunkt des Films. Die Plattitüde jener Teenager-Eigenschaften scheinen die Charakterzüge als ein simples Mittel zum Zweck zu entlarven: Mutter und Sohn in ihrer Beziehung und in Zukunftsvorstellungen auf einen offensichtlichen Konflikt hinzuleiten. Das ist durchaus Thema in einer Eltern-Kind-Beziehung, in Realität jedoch weniger überspitzt und gekünstelt. Glücklicherweise weichen diese eher plumpen Charakterzeichnungen in folgenden Mutter-Sohn-Gesprächen allmählich auf – wirklich davon lösen kann sich MEIN SOHN leider nicht.
Road-Trip durch seichte Gewässer
Während des Road-Trips durchfährt der Film ähnliche Gefilde. Wo die Zweisamkeit der beiden Hauptcharaktere irgendwann für berührende Momente sorgt, streuen sich indes weitere fade Storyelemente ein, die den Weg zur Klinik und die Entwicklung von Marlene und Jason unterfüttern sollen. Sei es der Klischee-Dicke, der als Anhalter die Innenluft des Autos mit seinem Schweißgeruch verpestet oder die sehr naturverbunden lebende und andersartige Ansichten pflegende Familie, wirklich realistisch wird keiner der kleinen Abstecher eingefangen.
Diese Zugeständnisse sorgen dafür, dass MEIN SOHN zwar ernsthafte und gerade mit seinem Ende auch authentische Ansätze besitzt, diese aber nicht einlösen kann oder besser gesagt auch nicht einlösen will. Die durchaus wertigen Bilder und lockerleichte Popsongs verstärken den Eindruck, das ein bisschen tiefgründiges Drama sein darf, aber nur auf eine seichte Variante. Der Film verzichtet auf große melodramatische Zuspitzungen und auch auf ein kitschiges Happy-End. Von Schmunzelmomenten für Fans von deutschen Dramedys kann er jedoch nicht absehen.
Fazit
MEIN SOHN zeigt eine fantastische Performance von Anke Engelke und eine in Ansätzen interessante Ausarbeitung einer Mutter-Sohn-Beziehung. Leider verlieren sich Engelkes Konterpart sowie einzelne Stationen des Road-Trips zu häufig im Klischee, und die ernsthafte, authentische Atmosphäre wird zu (Un-)Gunsten einzelner komödiantischer Momente aufgebrochen. Der Film ist berührend, kann emotional aufwühlen und verliert sich gegen Ende nicht im Kitsch, ist in vielen seiner Themen und einzelner seiner Figuren jedoch zu einfach gestrickt.
Originaltitel | Mein Sohn |
Kinostart | 18.11.2021 |
Länge | ca. 87 Minuten |
Produktionsland | Deutschland |
Genre | Drama |
Verleih | Warner Bros. GmbH |
FSK |
Regie | Lena Stahl |
Drehbuch | Lena Stahl |
Produzierende | Steffi Ackermann | Miriam Düssel | Susanne Freyer | Willi Geike |
Kamera | Friede Clausz |
Schnitt | Barbara Gles |
Schauspieler:in | Rolle |
Anke Engelke | Marlene |
Jonas Dassler | Jason |
Hannah Herzsprung | Sarah |
Karsten Mielke | Sebastian |
Max Hopp | Mathis |
Golo Euler | Hubi |
Daniel Zillmann | Timo |
Peter Jordan | ADAC Mechaniker |
Lucie Heinze | Melli |
Leopold Hornung | Oberarzt Müller |
Elzemarieke de Vos | Jale |
Luisa-Céline Gaffron | Krankenschwester Franziska |
Jakob Philipp Graf | Korbinian |
Christian Kaiser | Schweizer Arzt |
Hinterlasse einen Kommentar