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Missing Filmstill

Missing ©2022 CTMG

Die technische Revolution nimmt seit Jahren kein Ende und überfordert zunehmend die Menschen und damit auch ganze Gesellschaften. Kürzlich berichteten wir über den Einfluss von Chat GPT und weiteren künstlichen Intelligenzen, die das Leben im Beruf und im Privaten massiv verändern werden. Das, verknüpft mit einer zunehmenden weltweiten Überwachung, kann eine äußerst unappetitliche Mischung abgeben, wie uns bereits DAS NETZ (1995) mit Sandra Bullock und DER STAATSFEIND NR. 1 (1998) mit Will Smith offenbarten. Auch in der Filmbranche werde neuste Entwicklungen aufgenommen und so entstand 2014 mit UNKNOWN USER eines der ersten Werke, welches im Grunde vollständig auf einem Computerbildschirm stattfindet und die Möglichkeiten des digitalen Terrors auf eine neue Ebene hievte.

Sogleich entstand die Genre Bezeichnung „Desktop-Film“ oder auch „Screenmovies“. Produzent Timur Nuruachitowitsch Bekmambetow, der auch an UNKNOWN USER mitwirkte, hat auf moviemaker.com 2015 folgende (hier verkürzten) Grundregeln des Genres festgelegt: [1] Der Ort der Handlung ist ein spezifischer Computerbildschirm. Die komplette Story wird auf diesem Gerät entwickelt. [2] Das Geschehen findet in Echtzeit und somit mehr oder weniger ohne Schnitte statt. [3] Töne und Musik müssen vom Computer stammen und vom Publikum als solche nachvollziehbar sein.[1] Dieses Postulat kann jedoch nicht mehr als aktuell betrachtet werden, dass Bekmambetow mit SEARCHING zuletzt selbst einen Film produziert hat, welcher gewisse Bedingungen nicht erfüllt und dennoch dem Genre zugeordnet werden kann. Regisseur Aneesh Chaganty widmet sich in diesem der Aufdeckung eines Kriminalfalls. Die beiden Editoren Nicholas D. Johnson und Will Merrick haben sich nun erneut zusammengefunden, um mit MISSING das Genre fortzuführen und im weitesten Sinne ein Franchise zu entwickeln.

Darum geht es

Eigentlich sollte es eine geile Zeit für die junge Junes werden, denn ihre Mutter Grace und deren Partner machen gemeinsam Urlaub in Kolumbien, wodurch Junes das ganze Haus für sich hat. Gute Laune, Freunde treffen, Party sind angesagt. Als sich aber Grace nicht auf die Nachrichten von Junes zurückmeldet, wird sie stutzig. Es dauert nicht lange bis ihr der Verdacht kommt, dass etwas passiert sein müsse und so begibt sie sich auf Indiziensuche und spioniert ihrer Mutter nach. Dabei wächst der Verdacht, dass sie von ihrem Lover entführt wurde. Nachdem Junes das FBI eingeschalten hat, kommt schnell ans Tageslicht, dass es sich bei ihm um einen einst verurteilten Straftäter handelt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn die internationale Suche sorgt für einige Probleme und Junes ist gezwungen mit Hilfe der digitalen Welt das Rätsel aufzuklären. Wird sie ihre Mutter jemals lebend wiedersehen?

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Rezension

Das Regieduo versucht gar nicht groß zu verschleiern, was sie ihrem Publikum bieten wollen. Filmposter und Titel machen bereits unmissverständlich klar, welche Storyentwicklung uns erwarten wird. Sie kreieren mit MISSING einen rasanten Thriller, der tatsächlich mal wieder die Grundwerte des Genres anspricht. Mit simplen Mitteln wird ein wunderbarer Spannungsaufbau erzeugt, welcher immer wieder in unerwarteten Twists mündet und damit die Karten neu mischt, ohne dabei kitschige und vorhersehbare Entwicklungen zu nehmen. Ähnlich wie schon in SEARCHING bedient das Team sich dabei einer Familiengeschichte, stellt nun jedoch die Rollenverteilung auf den Kopf. Neugierig machen dabei vor allem die Fragen ‚Wie gut kennen wir unsere Liebsten wirklich?‘ sowie ‚Wie würden wir in solch einer Situation reagieren und wie realitätsnah sind gezeigte Handlungen?‘.

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Missing ©2022 CTMG

Trotz einer etwas längeren expositorischen Einleitung schwindet die Neugier nicht, denn während die Figurendynamiken langsam etabliert werden, sind wir als Publikum gefordert uns an einen ständigen Blick auf einen Computer- oder Handybildschirm zu gewöhnen, da die komplette Handlung sich lediglich auf diesen Geräten zuspielt. Diese Perspektive ist für viele noch absolutes Neuland und bietet einige Herausforderungen. Während „normale“ Filme üblicherweise einen klaren Fokuspunkt haben, wo wesentliche Elemente der Handlung geschehen, hebelt MISSING diese Regel aus und lässt das Auge in alle Ecken der Kinoleinwand schweifen, da nahezu überall Informationen und Details zu finden sind. Wirklich wichtige Elemente werden dennoch mit einem Zoom in die Benutzeroberfläche hervorgehoben, auch wenn diese teilweise so groß erscheinen, dass es gar nicht so einfach ist sie in einem Blick zu erfassen. Lobenswert ist dabei, dass, wie im digitalen Zoom üblich, eine Vergrößerung sogleich auch zur Verpixelung der Bilder führt und die Qualität nicht konstant ist.

Die Entwicklung eines neuen Genres

Johnson und Merrick schöpfen dabei die Möglichkeiten solcher Inszenierungen noch weiter aus, als wir es in vergleichbaren Werken gesehen haben. Nahezu alles, was einen Bildschirm oder eine Kamera bietet wird nun für die Visualisierung verwendet. Neben Computer und Handy sind das beispielsweise auch Smartwatches und Überwachungskameras, wodurch das einst so starre Format nun durch sprunghaften Einsatz der Bildschirme deutlich lebhafter und vor allem flexibler wird. Die Möglichkeiten der Handlungsbeobachtungen steigen damit nahezu ins Unbegrenzte und lassen sogleich völlig neue Kameraperspektiven zu, die ohne Schwierigkeiten erklärbar sind. Diese Art des Filmschauens kann durchaus anstrengend sein, da längere Handlungsstränge komplett ohne Schnitt stattfinden und das viele Geschehen auf Bildschirm und Leinwand selbst für intensive Techniknutzer ungewohnt ist.

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Missing ©2022 CTMG

Mit Storm Reid wurde eine wunderbare Hauptdarstellerin gefunden, die mit ihren gerade einmal 20 Jahren bereits mehr als die Hälfte ihres Lebens dem Filmsektor widmet. Da wir sie über große Teile von MISSING lediglich im Porträt sehen, ist eine umfassende mimische Darstellung unabdingbar. Sei es der hoffnungsvolle Blick, der verzweifelte Ausdruck oder die geschockt versteifte Miene – wir bekommen die gesamte Bandbreite und dürfen mit der Protagonistin gemeinsam einen Leidensweg beschreiten. Weitere Schauspielende wie Tim Griffin, Nia Long und Ken Leung bilden dabei lediglich ein Gastensemble und haben daher verhältnismäßig wenig Screentime. Üblicherweise tauchen sie vor allem in interessant kreierten Rückblicken auf, die sich vor allem durch ansprechend entwickelte Dialoge auszeichnen.

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Missing ©2022 CTMG

Plot holes verderben das Sehvergnügen

Leider wirken gewisse Entwicklungen sehr konstruiert und fernab der Realität. Ob es dem zuschulden ist, dass die United States auf einem anderen technischen und bürokratischen Level sind als wir in Deutschland oder das Team sich einfacherer Mechanismen wie dem Deux ex Machina und der Plot-Convinience bedienen wollte, um Zeit in der Kreativitätsphase zu sparen bleibt dabei fraglich. Es wirkt jedenfalls äußerst befremdlich, wenn ein FBI Agent nach weniger als einem Tag bereits auf eine Vermisstenmeldung anspringt und sich sogleich mit der Protagonistin immer wieder per Facetime in Kontakt setzt und ihr diverse Ermittlungsdaten zukommen lässt. Auch die Hackerfähigkeiten von Storm Reids Figur sind zwar in Ansätzen nachvollziehbar, hebeln aber im Gesamten die realen Möglichkeiten aus und widersprechen in einigen Punkten deutlich der Logik.

stilisierter Zelluloidfilm mit roter Ziffer "7"Fazit

Wer mit SEARCHING oder UNKNOWN USER bereits etwas anfangen konnte und neues Terrain in der Filmentwicklung betreten möchte, sollte MISSING auf jeden Fall eine Chance geben. Sowohl als Krimi und Thriller aber auch als neumodischer Desktopfilm funktioniert dieser Streifen wunderbar und bietet uns eine spannende Handlung, die mehr als einmal die Richtung wechselt und vor allem Familien Konstrukte in Frage stellt. Etwas überraschend erscheint es, dass bei der ansonsten rundum angenehmen Handlung, immer wieder Flüchtigkeitsfehler sich einschleichen, die relativ simpel und stimmig hätten erklärt werden können, dann jedoch mit teilweise sinnlosen Problemlösungen ausgestattet sind. Es bleibt jedoch abschließend zu bemerken, dass MISSING im Rahmen seiner Möglichkeiten die Entwicklung des neuartigen Desktopfilm Genres vorantreibt.

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Quelle

[1] Rules of the Screenmovie: The Unfriended Manifesto for the Digital Age, moviemaker.com, abgerufen am 20.02.2023