Review Kurzkritik Fakten + Credits


Mittagsstunde Filmstill

Mittagsstunde ©2022 Majestic | Christine Schroeder

Ganz im Norden von Deutschland befindet sich ein kleines Bundesland, dass von vielen nur selten wahrgenommen wird. Viele bringen mit Norddeutschland die Stadt Hamburg in Verbindung, doch auch zwischen der Hansestadt und Dänemark befinden sich knapp 150 Kilometer plattes Land. Auf der Ostseite befindet sich die Ostsee und auf der westlichen Seite, natürlich die Nordsee. Die Rede ist von Schleswig-Holstein, einem unscheinbaren Bundesland, das mehr zu bieten hat als nur Kühe und Wind. Durch die Nähe zu Dänemark spürt man gerade im nördlichen Teil um Flensburg die skandinavischen Einflüsse. Städte wie Lübeck präsentieren ihre beeindruckenden historischen Altstädte, St. Peter Ording ist einer der deutschen Hotspots für Surfer und am Bad Segeberger Kalkberg finden jedes Jahr die Karl May Festspiele statt, bei denen Schauspieler die Bücher des Western-Autors aufführen. Die nordfriesische Autorin Dörte Hansen hat das ländliche Schleswig-Holstein in ihrem Buch MITTAGSSTUNDE beschrieben.

Dieses Buch wurde nun von Regisseur Lars Jessen verfilmt. Jessen selbst stammt aus Kiel und scheint vertraut mit der Mentalität der Norddeutschen. Der Regisseur ist kein unbeschriebenes Blatt und hat vor MITTAGSSTUNDE unter anderem Filme wie JÜRGEN, die Verfilmung eines Heinz Strunk Buches, DORFPUNKS, oder die Dokumentation WILDES HERZ über die Punkband „Feine Sahne Fischfilet“ inszeniert. Für die Hauptrolle von MITTAGSSTUNDE wurde Charly Hübner besetzt, den man vor allem aus POLIZEIRUF 110 kennt. Die große Besonderheit an MITTAGSSTUNDE ist der Umgang mit dem Plattdeutschen. Der Film existiert in einer plattdeutschen und einer hochdeutschen Fassung, die Szenen wurden dabei nicht synchronisiert, sondern von den Darsteller*innen in beiden Versionen gespielt. Ich habe den Film in der plattdeutschen Fassung gesehen und werde euch in der folgenden Review zeigen warum es sich lohnt diesen Film zu schauen.

Darum geht es…

Der Universitätsprofessor Ingwer Feddersen (Charly Hübner) hat sich für ein Jahr eine Auszeit genommen. Er führt ein progressives Leben in Kiel, dabei ist er in einer Beziehung mit Ragnhild (Julika Jenkins) und Claudius (Nicki von Tempelhoff). Sie veranstalten regelmäßig Abende für Freunde und unterhalten sich über die großen Probleme dieser Welt. Eines Abends eröffnet Ingwer den beiden, dass er für ein Jahr zurück aufs Land gehen werde. Er ist in dem kleinen Dorf Brinkebüll groß geworden und seine Alten, wie er selbst sagt, brauchen seine Betreuung. Ella (Hildegard Schmahl) und Sönke Feddersen (Peter Franke) sind mittlerweile sehr alt. Ella hat dabei mit einer immer schlimmer werdenden Demenz zu kämpfen. Immer wieder spricht sie von Ihrer Tochter Marret (Gro Swantje Kohlhof), die sie schon seit Jahren nicht gesehen hat. Sönke hat nur noch ein Ziel im Leben, er will gemeinsam mit Ella die Gnadenhochzeit erreichen. Bald ist das alte Ehepaar 70 Jahre verheiratet. Ingwer findet sich in einer Welt, die dem Fortschritt zum Opfer gefallen ist, in Brinkebüll sind die Uhren stehen scheinbar geblieben.

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Rezension

Immer wieder tappt man beim Schreiben von Reviews in die Falle, deutsche Filme als minderwertigere Werke wahrzunehmen. Wie häufig hört oder liest man „für einen deutschen Film war das gar nicht schlecht“. Lars Jessen zeigt uns in MITTAGSSTUNDE, dass es nicht darauf ankommt, wo Filme herkommen, vielmehr geht es um die Geschichte, die erzählt werden soll. Wenn der Film dann noch in ein ansehnliches Gewand gekleidet wird, kommt ein großartiges Ergebnis wie dieser Film dabei heraus. Der Regisseur zeigt uns gemeinsam mit der Autorin Dörte Hansen, dass sich auch auf dem platten Land erzählenswerte Geschichten zutragen. Der Film entführt uns in eine andere Zeit, in eine Welt, in der sich die Menschen abgehängt fühlen. Der Fortschritt fräst eine Schneise in das kleine Dorf. Die von der Eiszeit geformten Landschaften müssen Straßen weichen, Jahrtausende alte Grabhügel werden einfach weggebaggert.

Mittagsstunde Filmstill

Mittagsstunde ©2022 Majestic | Christine Schroeder

Diese Diskrepanz zwischen Fortschritt und Tradition wird dabei zum zentralen Thema von MITTAGSSTUNDE. Wir sehen auf der einen Seite die alten Bewohner von Brinkebüll, die seit Generation ihr Leben in dem kleinen Dorf geführt haben. Es hat sich eine Gemeinschaft gebildet, in der jede*r Bewohner*in eine eigene Rolle hat. Auf der anderen Seite stehen Ingwers Partner*innen Ragnhild und Claudius. Sie zeigen uns eine moderne Welt, die sich völlig von der Tradition abgekoppelt hat, ihr Leben besteht aus der Neugier, daraus neue Erfahrungen zu machen. Selbst kleine Szenen entfachen dabei eine große Wirkung. Wenn Claudius mit aller Kraft versucht ein Gericht auf einem neuen Weg zuzubereiten, nimmt er in Kauf zu scheitern und seine Gäste hungern zu lassen. Ingwer bietet in der Szene eine pragmatische Lösung und schlägt vor, einen bekannten Weg zu gehen. Insgesamt wird Ingwer zu einer Figur zwischen den Welten, die sich anfangs noch verloren fühlt. Im Laufe der Handlung erkennt Ingwer, dass es auch einen Weg in der Mitte gibt. So wird MITTAGSSTUNDE in unserer wütenden Zeit zu einem Appell der Akzeptanz.

Großes Schauspiel in kleinen Momenten

Getragen wird der Film von Charly Hübners großartigem Schauspiel. Der Darsteller füllt seine Figur in den kleinen Momenten mit emotionaler Tiefe. Wie es bei den rauen, stoischen Norddeutschen üblich ist, spricht Ingwer nicht über seine Gefühle. Hübner transportiert das Innenleben des Uni-Professors mit subtilen Veränderungen der Mimik. Neben Charly Hübner schafft es die ganze Familie Feddersen in ihren Rollen zu brillieren. Gerade Hildegard Schmal und Peter Franke, die gealterten Eltern von Ingwer schaffen es zu überzeugen. Hildegard Schmal präsentiert uns, in einer herzzerreißenden Darbietung, eine Demente Frau, bei der durch ihre Krankheit die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. Bei Sönke Feddersen handelt es sich auf der anderen Seite um einen störrischen alten Mann, der Ingwer nie verziehen hat, das eigene Gasthaus zu übernehmen. Man spürt permanent einen unausgesprochenen Konflikt zwischen den beiden. Dabei handelt es sich bei Sönke Feddersen um eine sehr vielschichtige Figur, die durch das Leben geformt wurde und im Kern ein liebender Ehemann ist.

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Mittagsstunde ©2022 Majestic | Christine Schroeder

Neben der plattdeutschen Version des Films, hat MITTAGSSTUNDE noch eine weitere Besonderheit, er spielt auf mehreren parallel erzählten Zeitebenen. Wir sehen nicht nur Ingwer, wie er sich um die beiden Alten kümmert, sondern auch das Leben in der Vergangenheit und die Geschichte von Marret, die wie ein Gespenst über der Familie schwebt. Bei Marret handelt es sich um eine Frau, die an psychischen Problemen leidet, in einer Zeit, in der es noch keine Akzeptanz gab und Menschen einfach für verrückt erklärt wurden. Verkörpert wird die junge Frau von Gro Swantje Kohlhof, die genau wie ihre Kolleg*innen ebenfalls eine großartige Performance darbietet. Sie spielt eine unsichere Frau, die sich schnell mitreißen lässt. Dadurch entstehen für Sie und ihre Familie große Probleme. Anhand dieser unterschiedlichen Handlungsstränge entsteht Schritt für Schritt ein sehr Stimmiges Gesamtbild, dass uns am Ende zu Tränen rührt.

Fazit:

MITTAGSSTUNDE ist ein gefühlvolles Porträt einer Familie. Der Film präsentiert uns mit Ingwer Feddersen eine Figur, die zwischen den Welten steht, zwischen Fortschritt und Tradition. Charly Hübner wächst dabei über sich hinaus und schafft es mit kleinen Gesten für große Gefühle zu sorgen. Obwohl er das große Highlight des Films ist, schaffen es sämtliche Darsteller*innen zu überzeugen. Lars Jessen hat einen Film geschaffen, der uns zeigt, dass es nicht den einen richtigen Lebensweg gibt, es gibt nicht nur schwarz und weiß, das Leben besteht aus vielen Grautönen und Kompromissen. Dabei erzählt er uns eine herzzerreißende Geschichte über das Altern und über Familie. Wenn man sich den Film dann noch auf Plattdeutsch ansieht, kann man sich dem Charme von MITTAGSSTUNDE kaum noch entziehen.

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