FilmkritikIn KürzeDas sagen die Kolleg:innen
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Originaltitel: RUN
DVD/Blu-ray – Release: 15.01.2021

FSK 16

FSK 16 ©FSK

Länge: ca. 89 Minuten
Produktionsland: USA
Regie: Aneesh Chaganty
Schauspieler:innen: Sarah Paulson | Kiera Allen | Pat Healy
Genre: Thriller | Horror
Verleiher: Leonine

RUN

RUN ©2021 Leonine

Auch wenn Menschen mit einer Behinderung häufig noch immer als große Minderheit betrachtet werden, so entspricht dies doch keineswegs der Realität. Mit rund 7,9 Millionen schwerbehinderten Personen in Deutschland, sind rund 9,5% der Bevölkerung in unterschiedlichster Form von einer entsprechenden Einschränkung betroffen. Zum Vergleich: alle in Deutschland lebenden Kinder bis zu einem Alter von 10 Jahren bilden eine Masse von etwa 8,4 Millionen Menschen, womit deutlich wird, wie groß der Anteil wirklich ist. Glücklicherweise sind nur rund 1,4 Millionen Menschen auf einen Rollstuhl angewiesen. Auch die 24jährige Hauptdarstellerin Kiera Allen benötigt seit 2014 eine solche Fortbewegungshilfe. Zumeist wird in Filmen, in denen rollstuhlgebundene Personen dargestellt werden, mit gesunden Darsteller:innen gearbeitet, die sich erst für ihre Rolle in eine entsprechende Situation versetzen. Kiera Allen gehört somit zu den ganz wenigen professionellen Darsteller:innen, die ihren Lebensalltag damit gestalten.

Tatsächlich ist es sogar so, dass seit 1948 kein Thriller mehr gedreht wurde, in dem eine Protagonistin einen Rollstuhl auch im realen Leben nutzt. Das Produktionsteam hat sich angeblich bewusst dafür entschlossen die Hauptrolle so zu vergeben, um auch in Hollywood zu etablieren, dass schwerbehinderte Personen für entsprechende Darstellungen genutzt werden. Zuletzt sahen wir zum Beispiel in THE PEANUT BUTTER FALCON den Schauspieler Zack Gottsagen, der selbst mit einem Down-Syndrom lebt und somit für einen Film gecastet wurde, in welchem diese Krankheit eine wesentliche Rolle einnimmt. Andere Beispiele häufen sich in der heutigen Zeit immer mehr, was einen positiven Trend in der Besetzungsentwicklung aufzeigt, auch wenn an dieser Stelle noch viel Entwicklungspotential existiert.

RUN

RUN ©2021 Leonine

Darum geht es…

Chloe führt ein wundervolles Leben, ist glücklich und zufrieden und bereitet sich darauf vor bald ein College zu besuchen. Sie ist äußerst intelligent und baut immer wieder innovative Erfindungen. Dabei fällt kaum noch auf, dass sie Zeit ihres Lebens an den Rollstuhl gebunden ist und ein Leben mit vielen Beeinträchtigungen führt. Insbesondere ihre liebende Mutter sorgt dafür, dass es der Schülerin an nichts fehlt, auch wenn ihre Bewegungsmöglichkeiten im Großen und Ganzen nur auf die eigenen vier Wände beschränken. Doch als wissbegierige Teenagerin wird sie stutzig, als sie plötzlich eine völlig neue Pille verabreicht bekommt und beginnt sich über diese schlau zu machen. Dies ist der Beginn einer schier unendlichen Flut von Informationen, die ein völlig neues Licht auf die Beziehung zwischen Chloe und ihrer Mutter werfen. Was passiert, wenn der einzige Haltepunkt im Leben sich plötzlich komplett löst und die Welt eine andere zu sein scheint, als man sie Jahrelang kennen gelernt hat?

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Rezension

Mit RUN präsentiert uns Regisseur Aneesh Chaganty endlich mal wieder einen spannenden Thriller, der das Prädikat Kinofilm verdient hat – doch Moment mal. Tatsächlich hat sich das Filmstudio Leonine dazu entschieden diesen direkt im Home Entertainment zu veröffentlichen und ihm keine Chance auf der Leinwand zu geben – natürlich begründet in der aktuellen pandemischen Lage. Wieder einmal ein tragischer Verlust für Kinofans, wenn auch damit zumindest der Hunger nach neuen Filmen ein wenig gestillt wird. Einige wenige Länder hatten sogar einen Kinostart, doch zumeist wurde das Werk direkt auf dem Streaminganbieter Hulu veröffentlicht.

RUN

RUN ©2021 Leonine

Doch warum wäre es fantastisch gewesen ihn auf der großen Leinwand zu sehen? Vor allem wegen der greifbaren Atmosphäre, die im Verlauf der Handlung deutlich an Substanz zunimmt. Während wir im ersten drittel des Films eine eher harmonisch geprägte und liebevolle Geschichte zu sehen bekommen, wandelt sie sich in den darauffolgenden Abschnitten in eine dramatisch angespannte Story, die sich vor allem mit den Widrigkeiten und daraus ergebenden Schwierigkeiten einer Behinderung in gesondertem Maße befasst. Hierbei wurde erstaunlich viel Wert darauf gelegt tatsächliche Alltagsprobleme zu berücksichtigen und die Perspektive einer rollstuhlgebundenen Person zu verdeutlichen. Insbesondere das nicht Rollstuhlgerechte Haus ermöglicht dem Film die Story recht klein zu halten und dennoch eine komplizierte und gar auswegloses Situation zu schaffen, die einen entsprechenden Thrill in die Handlung etabliert.

Ein Fluchtszenario, dass sich sehen lässt

Hierbei beschäftigt sich RUN im mittleren Part vor allem mit einem Inhalt sehr ausführlich: Der Flucht der Protagonistin, die immer wieder vor diversen Herausforderungen steht, nachdem ihre Mutter sie im eigenen Zimmer eingeschlossen hat und die Tür mit einem Schrubber zusätzlich verriegelte. Es folgt eine akrobatische Performance, die angesichts der Bewegungsprobleme der Schauspielerin herausragend wirkt, auch wenn natürlich viele Elemente nur zusammengeschnitten wurden. Neben den körperlichen Herausforderungen, die diese Sequenz bietet, schafft es Aneesh Chaganty auch immer wieder die Angst zu fokussieren und eine dramatische Umgebung zu schaffen, die dem Publikum teilweise die Haare zu Berge stehen lässt. Besonders triggert dabei die eigentlich vollkommen natürliche Beziehung zwischen Kind und Elternteil und dem absurden Wissen, dass man eigentlich glaubt die persönliche Bezugsperson bestens zu kennen.

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RUN ©2021 Leonine

Insgesamt gibt es nur wenig Handlungsorte, diese wurden jedoch geschickt ausgespielt und ausgereizt. Auch die Zeichnung der Figuren hat es in sich, auch wenn die Mutter, gespielt von Sarah Paulson, die wir schon aus Filmen wie 12 YEARS A SLAVE, DIE VERLEGERIN, GLASS und DER DISTELFINK kennen, irgendwann doch recht anstrengend und überdreht dargestellt wird. Allerdings wird dies auch schlüssig durch den psychischen Knacks interpretiert, der ihr angedichtet wurde. Besonders gut haben mir die smarten Entscheidungen des kurzzeitig auftretenden Briefträgers gefallen, die nicht den klassischen 0815-Verhalten entsprechen, sondern tatsächlich davon zeugen, dass sich das Filmteam Gedanken gemacht hat, wie eine kritische Situation wirklich stattfinden könnte.

Rapunzel 2.0

So wie die Geschichte aufgezogen wurde, festigte sich der Eindruck, dass RUN eine moderne Rapunzel-Geschichte darstellt, welche jedoch auf deutlich mehr Selbstständigkeit der weiblichen Protagonistin beruht. Dennoch bekommen wir alle klassischen Stilmittel, die schon Rapunzel aufweisen konnte: eine eingesperrte Tochter, die von einer durchgedrehten Mutter terrorisiert wird und an der Flucht gehindert wird; ein Rettungsszenario, an welchem ein Mann wesentlich beteiligt ist (auch wenn es fehlschlägt) sowie auch die tiefgreifende Unterdrückung der Talente und Fähigkeiten der Hauptfigur. Hier ist auch der finale Bezug wunderbar ausgearbeitet, der keine vollständige Abnabelung von Kiera Allens Figur in Bezug zur Mutter darstellt und sich damit wiederum an der Märchenvorlage orientiert (je nachdem welche Fassung betrachtet wird).

Doch weist der Film auch einige Schwächen auf, gerade weil die Handlung sich fast ausschließlich nur auf eine Lokalität beschränkt. Damit wird zwar einerseits ein klaustrophobisches Gefühl beim Publikum erzeugt, welches sich gut auf die Stimmung auswirkt, gleichzeitig aber eine unschöne Eintönigkeit geschaffen, die kaum visuell starke Momente liefert und sich einzig auf die Leistung von Kiera Allen fokussiert. Dies hätte durchaus auch fatal in die Hose gehen können.

RUN

RUN ©2021 Leonine

Fazit

Unterm Strich kann jedoch zusammengefasst werden, dass es sich hierbei um einen wirklich spannenden Thriller handelt, der mit kleinen, aber dennoch perfekt positionierten, Ideen seine Stärken bestens ausspielen kann. Dabei ist die Klassifizierung als „Horror-Film“ eher irreführend und nicht so recht zutreffend, denn von Beginn an handelt es sich einzig um allein um einen Thriller, der sich nicht vor dem versteckt, was er ist und vor allem geschickt mit triggernden Elementen arbeitet. Während die große Starbesetzung mit Sarah Paulson eher enttäuscht, hat es Kiera Allen geschafft zu überzeugen und macht neugierig auf ihren weiteren Karriereweg. RUN arbeitet darüber hinaus mit vielen alltäglichen Situationen, die eine gewisse Dramatik erzeugen und daher möglicherweise nichts für schwache Nerven sind, auch wenn letztlich kaum Elemente enthalten sind, die mit Brutalität, Jump-Scare oder ähnlichen Begrifflichkeiten charakterisiert werden könnten.

 

Sehnlichst wünschen wir uns alle wieder Filme in den Kinos zu sehen. Insbesondere RUN macht uns diesen Wunsch wieder gegenwärtig, denn dies ist ein Film nur teilweise in den heimischen vier Wänden funktioniert. Er arbeitet selbst mit einer sehr angespannten und greifbaren Atmosphäre, die wohl erst im Kino vollkommen spürbar gemacht werden kann, auch wenn die deutlich kleineren Räumlichkeiten zu Hause die aufgezeigte Beklommenheit ebenfalls gut widerspiegeln können. Hauptdarstellerin Kiera Allen beweist in diesem Werk außergewöhnlich starkes Schauspieltalent, insbesondere hinsichtlich ihrer körperlichen Behinderung, die so manch einen Drehtag erschwert haben dürfte. Dennoch präsentiert sie sich in einem hervorragenden Licht und öffnet sich mit diesem Film wohl die Möglichkeiten für die große Darstellerbühne. Doch der Film lebt neben ihrer Leistung vor allem von triggernden Momenten, die wir alle aus unserem Alltag kennen und aus denen Regisseur Aneesh Chagantly teilweise verstörende Situationen gezaubert hat. Zudem lebt das gesamte Werk davon, dass dem Publikum nur häppchenweise Informationen zur Verfügung gestellt werden, so dass dieses einen ähnlichen Prozess durchleben muss wie die Protagonistin – sprich von einer allwissenden Erzählperspektive wird abgesehen und der Fokus einzig und allein auf die Erkenntnisse der Hauptdarstellerin gelegt.

RUN

RUN ©2021 Leonine