Rezension
Munter sind die letzten Vorbereitungen für die Geburtstagsfeier im Gange, als Sol von ihrer Mutter zum Haus des Großvaters gebracht wird. Dort wird gesaugt und geputzt, es werden Geister vertrieben und Haare gewaschen, notfalls auch in der Spüle. Ganz im Gegenteil zum lebhaften Mit- und Durcheinander der Großfamilie etabliert sich der gegenwärtige Zustand Sols Vaters. Während die Familienmitglieder im restlichen Teil des Hauses rege miteinander interagieren, verharrt Tona in stiller Zweisamkeit bei seiner Pflegerin. Es ist eine von vielen Parallelzeichnungen, die sich in Lila Avilés zweiten Spielfilm einbetten und das Familiendrama mit den unmittelbar gefilmten Bildern von Diego Tenorio intensivieren.
Perspektivenübergreifend skizziert Avilés in TÓTEM Teile einer mexikanischen Großfamilie in ihrem authentischen Zusammenspiel, fokussiert die junge, auf ihren Vater wartende Sol, weitet den Blick jedoch auch für die Welt der Erwachsenen. Im Alltag verfließen und kollidieren Blickwinkel zu einem sukzessive anwachsenden Familienbild mit tragischen Kernstück. Den dämmernden Zustand Tonas kontinuierlich in die Geschichte einarbeitend, beobachtet das spanischsprachige Ensemblestück die überlappenden Gefühle der engen Verwandten in ihrem generationenübergreifenden Alltag. Allesamt durchdringen kann der Film die angerissenen Figuren, die sich der Aufmerksamkeit der Erzählung gelegentlich entziehen, nicht, dafür jedoch einen lebendigen, thematisch geladenen Abriss der Familiendynamiken entwerfen. Wiederholt zeichnet sich dabei die Lebensrealität der Familie(n) ab, ohne den Schwerpunkt auf soziale Kommentare zu setzen. Dieser ruht immer wieder auf dem persönlichen Umgang mit dem sich kritisch entwickelnden Gesundheitszustand Tonas, welcher nicht nur die junge Sol, sondern auch andere Figuren verunsichert.
Mit großer Sensitivität spürt die Regisseurin Sols individueller Erfahrungs- und Verarbeitungsweise nach und entlockt kindliche Gedankengänge, die sich aus den umliegenden Fragen nach der Vergänglichkeit und Endlichkeit eines Lebens entspinnen. Ihre Suche nach Antworten ist ein anhaltender Prozess, der sich behutsam in den Mikrokosmos der Familie eingliedert. Wie die kleinen Symbole und spirituellen Rituale, die die tragischen Untertöne aufkratzen und in der Geschichte niemals überhandnehmen. Von der Freude über einen Goldfisch bis zu der tiefsten Sehnsucht und dem oft unausgesprochen bleibenden Wunsch, ihren Vater länger bei sich zu haben, ist die Performance von Naíma Sentíes ein eindrückliches Schauspieldebüt in einem ohnehin sehr greifbar agierenden Cast.
Bemühungen, doch noch zu einer gesundheitlichen Verbesserung zu verhelfen, finden ihren Weg ins Übernatürliche. Quantentherapie und die Säuberung von Geistern sind letzte Ausweichversuche vor dem Ende. Gedanken an dieses drängen sich unvermeidlich zwischen die belebten Vorbereitungen und festigen sich als unverklärte, unabänderbare Gegenwart des Familiengeschehens. So auch im letzten Drittel des wirkungsvoll aufgebauten Berlinale-Wettbewerbsbeitrags, in dem sich die freudige Feier mit den Gästen, das eifrige Feuer einer Himmelslaterne und einstudierte Performances vor der Gewissheit einen, nicht viele Momente dieser Art mit dem geliebten Menschen wiederholen zu können. Erneut bewegt sich die Kamera nah an den Figuren und hält vielsagende Aufnahmen von Gesichtern fest, selbst wenn das gesprochene Wort gar keine große Rolle mehr spielt.
Fazit
Vom ersten Eintreffen im Haus des Großvaters bis zum Abschluss der Geburtstagsfeier äußerst lebendiges und aufrichtig erzähltes Familiendrama. TÓTEM entwirft einen in geerdeten Bildern äußert dichten Familienkosmos, in dem verschiedene Perspektiven vor dem Hintergrund eines tragischen Einzelschicksals wirkungsvoll ineinanderfließen.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Berlinale Sektion | Wettbewerb |
Originaltitel | Tótem |
Kinostart | 7.9.2023 |
Länge: | 95 minuten |
Produktionsland | Denmark |
Genre: | Drama | Komödie |
Regie | Lila Avilés |
Executive Producer | Salma Hayek Pinault |
Producer | José Tamez | Siobhan Flynn | Tatiana Graullera | Louise Riousse | Jean-Baptiste Bailly-Maitre | Lila Avilés | Per Damgaard Hansen |
Kamera | Diego Tenorio |
Visual Effects | Alexander Marthin |
Musik | Thomas Becka |
Cast | Naíma Sentíes, Montserrat Marañon, Marisol Gasé, Saori Gurza, Mateo García Elizondo, Teresa Sánchez, Iazua Larios, Alberto Amador, Juan Francisco Maldonado, Marisela Villaruel, Galia Mayer, Lukas Urkijo, José Manuel Poncelis, Alioth Gutiérrez, Rodrigo Lamas, Abel Sánchez, Pepe Aguilar, Georgina Tábora, Zuadd Atala, Michelle Menéndez |
Wie hat Dir der Film gefallen?
Hinterlasse einen Kommentar