FilmkritikFakten + Credits
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Annette

Annette ©2021 Alamode Film

Leos Caraxs sechster Spielfilmproduktion, seinem ersten Langfilm nach dem viel gelobten HOLY MOTORS von 2012, kam nicht nur die Eröffnungsvorführung des diesjährigen Filmfestivals in Cannes zu, für dessen Inszenierung erhielt der französische Regisseur bei den 74. Filmfestspielen obendrein den Regiepreis. In Zusammenarbeit mit dem musikalischen Brüder-Duo Sparks schuf Carax nicht nur seine erste englischsprachige Koproduktion, sondern auch ein Musical der besonderen Art, welches zum Teil an die Bizzarheit vergangener Filme anknüpft.

Caraxs Musical ANNETTE ist keine Wohlfühloase oder verträumte Geschichte, es ist ein bedrückendes, symbolträchtiges und mitunter auch anstrengendes Werk. Sind die ersten Töne einer beeindruckend lockeren Overtüre erst einmal verklungen, offenbart sich allmählich die wahre Gestalt des Films. Inmitten der fast durchgängig gesungenen Dialoge und Monologe offenbaren sich Charaktere und Abläufe, die aus einem Thriller gegriffen oder für ein Horrordrama geschrieben wirken. Ein mehr als zweistündiger Ritt durch menschliche Abgründe und gleichzeitig mit filmischen Höhenflügen. So may we start?

Darum geht es …

Henry McHenry ist ein erfolgreicher wie provokanter Stand-up-Comedian, der kein Blatt vor den Mund nimmt und seine Momente im Rampenlicht genießt. Gemeinsam mit seiner Frau Ann, die in aller Welt als Opernsängerin gefeiert wird, lebt er in Los Angeles unter dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit. Die Geburt ihres ersten Kindes Annette beginnt, das Leben der beiden zu verändern und zusehends auf den Kopf zu stellen. Während McHenry seine aufbrausenden und schädlichen Gefühlsausbrüche zu Leiden seiner Frau und seinem Umfeld immer weniger beherrschen kann, offenbart Annette ein überraschendes Talent …

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Rezension

So close all the doors and let’s begin the show

Freudig und fidel tönt der Opening-Song „So may we start“ dem Publikum entgegen und könnte die folgenden Filmminuten wohl nicht trügerischer ankündigen. In Wahrheit gleichen diese eher dem zweiten musikalischen Einspieler „True Love Always Finds a Way“, einem Lied mit gespenstischen Charakter und ersten Zügen von Beklommenheit. Leicht fröstelnde Töne, die die glänzende Fassade eines anfänglichen Traumpaares erst gelegentlich zum Frieren und später zum glasklaren Zerspringen bringen.

Früher gab es mehr zu lachen

Die Abwärtsspirale des Films ist unaufhaltsam. Und die Hauptfigur McHenry wehrt sich nicht dagegen, sondern befeuert sie erst so richtig. Adam Driver spielt sich dabei mehr als einmal um Kopf und Kragen. Die einführenden Stand-up-Auftritte, in denen sich Charakter und Art des arroganten und tonangebenden Comedy-Stars noch verhältnismäßig erträglich offenbaren, sind da nur ein Vorgeschmack auf den Wahnsinn, dem sich Driver mit zunehmender Laufzeit hingibt. Henry McHenry ist kein Sympathisant, er ist misogyn und manipulativ und in Drivers Verkörperung sogar regelrecht furchteinflößend. Andere Figuren versucht er entweder zwanghaft an sich zu halten oder möglichst weit von sich zu stoßen, seine Perspektive als egozentrischer Künstler und Täter bleibt  unangenehm zentral. Das ermöglicht leider keinen umfassenden Einblick in die Folgen für Betroffene seiner verwerflichen Taten, wird gegen Ende aber auch ohne Mitleidsbekundung konsequent zu Ende geführt.

Annette

Annette ©2021 Alamode Film

Mit seiner wuchtigen Präsenz ragt Adam Driver wie kein zweiter aus dem Film, was wohl zum größten Kritikpunkt des tragischen Musicals führt. Ihm fehlt es an einem Konterpart, einer ebenso starken, kraftvollen und präsenten Figur an McHenrys Seite, die mit der von Marion Cotillard gespielten Ann zwar bereits einen nicht unwesentlichen Teil der Handlung einnimmt, die sich aber nie gegen die männliche Vehemenz durchsetzen kann. Ann wird nicht empowert, auch nicht mit Unterstützung der MeeToo-Debatte. Sie bleibt im Vergleich zu ihrem zweifelhaften Liebhaber ein blasser Charakter, der seine Gefühle in überhöhten Arien ausdrückt und höchstens in späterer Erscheinung tatsächlich Hartnäckigkeit zeigt. Immerhin verzichtet der Film darauf, ihr Leidwesen visuell auszubeuten und und vermittelt ihr tragisches Schicksal abgesehen ihrer eigenen Arie eher unterschwellig.

Zusätzliche Konkurrenz erhält Cotillard von Simon Helberg, der den Dirigenten, eine frühere Affäre Anns, mimt und spätestens bei einer Orchesterprobe sämtliche Aufmerksamkeit an sich reißt. In nur wenigen Szenen schafft Helberg seine Figur glaubhaft und vor allem wirkungsvoll in den Film zu integrieren und sie sogar deutlicher ins Gedächtnis zu brennen, als die eigentliche Hauptfigur. Baby Annette ist zwar mit großer Gabe gesegnet, wirklich lebhaft wird sie allerdings nur in ihren letzten Szene, – das im Gegensatz zu ihrer leidtragenden Mutter aber auch gewollt.

Nicht von dieser Welt

All diese Figuren bewegen sich innerhalb eines symbolträchtigen und vor allem musikalischen Kosmos, welcher Bild für Bild durchstiegen werden kann. Sowohl Symbole als auch die Musik sind dabei gleich mehrfach deutbar und rücken die Gesamtgestalt des Films je nach Angriffspunkt in ein anderes Licht. So sind einige Sinnbilder offensichtlich in Szene gesetzt wie die Puppe und der überdramatisierte Sturm, der die Familientragödie hervorruft, andere hingegen lassen sich erst weitgefasster interpretieren wie die Rolle der Frau in der Oper und die gelegentlichen Kitzelspiele. Die Symboliken sprechen ihre eigene Sprache, stellen sich gegen McHenry und einer Verharmlosung dessen Taten und überzeugen ebenfalls mit ihrer Stringenz. So wird bei genauerem Hinsehen etwa der Pool des Hauses zum unheilvollen Stimmungsbarometer McHenrys und Anns.

Annette

Annette ©2021 Alamode Film

Ambivalent ist auch die musikalische Begleitung, ausnahmslos aus Feder der Spark-Brothers stammend und angenehm facettenreich. Vom Pop-Musical-Beginn über Opern- und Chorgesänge bis zu cholerischen Rap-Anleihen springt der Soundtrack zwischen verschiedenen Genres umher und begleitet beinah jede Minute des Films unstillbar. Mal ist die Kommunikation über die Musik ernsthaft und direkter Bestandteil des Films, manchmal absurde Überhöhung von Musicalattributen.  Einzig in ihrer Unvollkommenheit ähneln sich viele der Lieder, denn im Vergleich zu vielen anderen Filmmusicals wie dem diesjährigen IN THE HEIGHTS oder TICK TICK… BOOM sitzt in ANNETTE nicht jeder Ton, die Songs haben Ecken und Kanten, und auf Hochglanzoptik und perfekte Tanzchoreographien wird verzichtet.

Stattdessen setzt Carax auf Einflüsse aus dem Theater sowohl innerhalb Anns Opernauftritte als auch darüber hinaus. Seine Ästhetik verknüpft sich aus deutbaren Lichtspielen und vielen Kontrastarbeiten, die abseits des musikalischen einen visuellen Sog erzeugen. Dieser vereinnahmt das Publikum für zahlreiche Schlüsselszenen, aber nicht in jeder einzelner der 140 Minuten. Die Länge des Films ist spürbar, erst recht für diejenigen mit geringer Begeisterung für gesungene Dialoge und Konflikte. ANNETTE bleibt am ehesten eine sehenswerte Tour de Force für Musicalliebhaber.

Bewertung Michel RieckFazit

ANNETTE ist ein bedrückendes und düsteres Filmmusical, welches mit all seiner darstellerischen Energie und pompösen Symbolik auf die große Leinwand gehört. Adam Driver und Simon Helberg liefern ein paar der eindringlichsten Performances und Filmmomente des auslaufenden Kinojahres ab, verdeutlichen dadurch aber umso stärker die Schwächen in der weiblichen Figurenzeichnung. Die Ein- und Verbindung von und mit der Musik der Spark-Brothers ist ebenso mitreißend wie aufwühlend und facettenreich, nicht immer mit Ohrwurmpotential, aber durch und durch stimmungsgebend. Ein Filmmusical mit surrealen Dimensionen, in denen sich tiefgreifende, gesellschaftskritische Mechanismen verstecken, die mal plump, mal subtil und mal ausnahmslos provozierend in die Aufmachung einfließen. Kein Film für einen gemütlichen Nachmittag, sondern ein musikalisch und schauspielerisch aufbrausendes, inhaltlich unbequemes und teils verfängliches Kinogewitter.

Originaltitel Annette
Kinostart 16.12.2021
Länge ca. 141 Minuten
Produktionsland Frankreich | Belgien | Deutschland | USA | Japan | Mexiko | Schweiz
Genre Drama | Musical | Romanze
Verleih Alamode Film
FSK
FSK 12

FSK 12 ©FSK


Regie Leos Carax
Drehbuch Ron Mael | Russell Mael
Produzierende Tatiana Bouchain | Denisse Chapa | Julio Chavezmontes | Ron Eli Cohen | Lawrence Davin | Adam Driver | Urte Amelie Fink | Consuelo Frauenfelder | Fabian Gasmia | Olivier Gauriat | Charles Gillibert | Kenzô Horikoshi | Genevieve Lemal | Philippe Logie | Alejandro Mares | Grégoire Melin | Michel Merkt | Nina Poretzky | Olivier Père | Benoit Roland | Regina Solórzano | Paul-Dominique Win Vacharasinthu | Lorena Villarreal
Musik Ron Mael | Russell Mael
Kamera Caroline Champetier
Schnitt Nelly Quettier

Besetzung Rolle
Adam Driver Henry McHenry
Marion Cotillard Ann Defrasnoux
Simon Helberg The Accompanist
Devyn McDowell Annette in Prison
Angèle Special Guest
Natalia Lafourcade Special Guest
Sinay Bavurhe Chorus Girl
Franziska Grohmann Chorus Girl
Rachel Mulowayi Chorus Girl
Christiane Tchouhan Chorus Girl
Julia Bullock Six Women Member
Claron McFadden Six Women Member
Natalie Mendoza Six Women Member
Kiko Mizuhara Six Women Member