Schicksale, die ineinandergreifen, sich begegnen und spiegeln, Figuren, die sich unwillkürlich im Rad der Fortuna auf und ab bewegen, Dialoge, die Figuren und ihren Schicksalen Ausdruck verleihen – bereits in seinem Vier-Stunden-Werk HAPPY HOUR gelang Ryūsuke Hamaguchi jene Verflechtung hervorragend. Anfang des Jahres gewann seine Verfilmung der Kurzgeschichte DRIVE MY CAR den Oscar für den besten internationalen Film, bereits ein Jahr zuvor wurde sein aktuellster Spielfilm DAS GLÜCKSRAD im Wettbewerb der 71. Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Verfilmt wurde in diesem keine weitere Geschichte des japanischen Autors Haruki Murakami, sondern gleich drei Kurzgeschichten Hamaguchis selbst. Diesmal auch nicht in Überlänge, sondern innerhalb zweier Stunden.
In seinem ersten Episodenfilm thematisiert der japanische Regisseur in verschiedensten zwischenmenschlichen Begegnungen das Wesen des Zufalls und ausschnitthaft die Biografien seiner weiblichen Hauptfiguren. Auch DAS GLÜCKSRAD ist in seiner Entschleunigung und gewissenhaften Faszination für das Sprechen und die Dialoge Abwechslung und Glücksfall für das Kino. Wenngleich durch die episodische Struktur deutlich wird, dass der Film nicht in allen Punkten an vorangegangene Werke anknüpfen kann.
Darum geht es
In drei Episoden erzählt der Film von Frauen, die auf unterschiedlichste Art und Weise mit sich selbst, ihrer Vergangenheit, Unsicherheiten und Zukunftsgedanken konfrontiert sind: Meiko muss feststellen, dass ihre beste Freundin Tsugumi ihren Ex-Freund Kazuaki trifft und stellt ihn daraufhin zur Rede, Nao soll einen ausgezeichneten Professor verführen, doch das Treffen verläuft anders als geplant und in einer nicht weit entfernten Zukunft treffen die ehemaligen Schulfreundinnen Moka und Nana aufeinander und tauschen sich aus …
Rezension
Jede einzelne der drei Episoden besteht aus einem expositionierenden Rahmen und dem eigentlichen Kern der Geschichte. Letzterer ist in jeder Einzelnen ein Gespräch zwischen zwei Figuren, das überwiegend in einem Raum, einem eigenen, geschlossenen Mikrokosmos stattfindet und in ausführlichen Dialogen viele kleine Überraschungen versteckt. Einander verbindet sie die präzise und eingehende Inszenierung Hamaguchis. Keine der Dialogzeilen ist beliebig, keine der Einstellungen willkürlich. Mit großer Ruhe und Sorgfalt fängt der Film die vielfältigen Charakterdynamiken ein, die statt an oberflächlichen Soap-Elementen zu scheitern, durch die hervorragenden Darsteller*innen und das gut ausgearbeitete Skript eine tiefe und fesselnde Wirkungskraft entfalten.
Inhaltlich bieten die Gespräche verschiedenster Charaktere gleichermaßen intime Figurenporträts, gesellschaftliche Reflexionen und universelle wie philosophische Gedankengänge: das Streben nach dem Glücklichsein, individuelle Süchte (etwa nach einst geliebten Menschen) oder das Umgehen mit und Brechen von gesellschaftlicher Normativität und Idealen. Aktuelle Diskurse beleben die ohnehin schon spürbare Authentizität, ohne ausdiskutiert oder zugespitzt zu werden. Und fast nebenbei spielt der Film auch noch mit den Erwartungshaltungen seines Publikums, so subtil und unprätentiös, dass einige wendungsreichere Filme neidisch drein blicken dürfen.
Nozomi
DAS GLÜCKSRAD lässt das Publikum die einzelne Begegnungen in abgeschlossenen und durch Kapitelmarken getrennten Einheiten erleben. Dreimal spinnt der Film seinen Faden thematisch weiter. Seine Figuren hingegen etabliert er jedes Mal aufs Neue, ohne dass eine von ihnen ihre Mehrschichtigkeit oder emotionale Individualität einbüßt. Die drei Kurzfilme und ihre Figuren in einen filmischen Einklang zu bringen, schafft die lose thematische Verknüpfung wiederholt zwischen den Dialogzeilen. Ebenso oft hinterlässt der Film als Ganzes aber auch mehrdeutiges Verlangen: einerseits noch mehr jener Menschen, denen sich die Kurzgeschichten widmen, sehen zu wollen, andererseits die präzisen Ausschnitte ihrer Leben unbedingt als solche stehen zu lassen.
So ambivalent wie die Figuren ist der Film auch in seinen Emotionen, die Zuschauer*innen wahlweise an den Lippen der Darsteller*innen kleben oder sie in ihrer Unaufdringlichkeit gelangweilt auf die Uhr blicken lassen. Wie in seinen Vorgängerwerken inszeniert Hamaguchi auch DAS GLÜCKSRAD mit dem heutigen Kino fast befremdlicher Ruhe und fordert zugleich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit seines Publikums ein. Wer sich darauf einlässt, sieht die tiefen Charakterzeichnungen und spürt die ambigen Gefühlswelten. Wenngleich es immer wieder um Unsicherheiten, emotionale Unbeständigkeit oder (Zukunfts- und vergangene) Sorgen der Protagonistinnen geht, verfallen Hamaguchis Filme zu keinem Zeitpunkt einer bedrückenden Schwere. So sucht auch dieser hier nach den kleinen Momenten: dem Zufall als Alltagsmagie, dem Zwischenmenschlichen und dem Verbindenden. Wie am Ende des Films, an dem ein vergessen geglaubter Name den Protagonistinnen ein freudiges Lachen entlockt: Nozomi – Hoffnung.
Fazit
DAS GLÜCKSRAD ist handwerklich präzises Slow-Burn-Cinema und hervorragend wie authentisches Schauspiel-Kino mit ruhiger, aber eindringlicher Dialogkraft. Die Erzählweise des Episodendramas ist kaum vergleichbar mit Hamaguchis sich kontinuierlich aufbauenden Vorgängerwerke und kann, wenn neue Figuren und ihre Geschichten aufgenommen werden, die Geduld seines Publikums herausfordern. Wer der Entschleunigung und dem Gesprächssog erliegt, wird mit interessanten Figuren, einer beruhigenden Natürlichkeit und vielen kleinen, eindrucksvollen Momenten und Denkanstößen entlohnt.
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