FilmkritikFakten + Credits

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

Die Romane und Erzählungen von Haruki Murakami zählen zu den bekanntesten und populärsten Büchern moderner japanischer Literatur. Sein schriftstellerisches Schaffen wurde vielfach ausgezeichnet, erst 2018 feierte Lee Chang-dongs Verfilmung der Kurzgeschichte „Scheunenabbrennen“ bei den internationalen Filmfestspielen von Cannes Premiere. Mit der Umsetzung einer Erzählung von 2014 bringt nun auch Ryûsuke Hamaguchi (HAPPY HOUR, ASAKO) einen Murakami-Stoff auf die große Leinwand.

DRIVE MY CAR, der ebenfalls in Cannes Premiere feierte, basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte Murakamis und ist im Rennen um den Fremdsprachen-Oscar 2022 Japans Nominierungskandidat. Bei den 74. Internationalen Filmfestspielen erhielt er bereits im Sommer den Preis für das beste Drehbuch sowie die Gunst der FIPRESCI- und der ökumenischen Jury. Das knapp drei Stunden üppige Werk lässt seine literarische Vorlage nicht verkennen, besticht darüber hinaus durch seine wenigen, aber tiefgründigen Charaktere und eine filmischen Entschleunigung, wie sie dem zeitgenössischen Kino immer wieder guttut.

Darum geht es …

Yūsuke Kafuku ist Schauspieler und Theaterregisseur, seine Frau Oto, eine Autorin, mit ungewöhnlicher Art zu Arbeiten. Als die Zweisamkeit von einem Schicksalsschlag gestört wird, sieht sich Kafuku zum zweiten Mal in seinem Leben mit einem schweren Verlust konfrontiert. Zwei Jahre später entscheidet er sich, im Rahmen eines Theaterfestivals in Hiroshima erneut ein Bühnenstück zu inszenieren. Zu seinem anfänglichen Unwillen wird ihm eine junge Frau als persönliche Fahrerin zur Seite gestellt, der er nach und nach seine Vergangenheit anvertraut …

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Rezension

Es vergehen vierzig Filmminuten bis die ersten Openingcredits unscheinbar um den roten Saab 900 eingeblendet werden und mit ihnen der Hauptteil der dreistündigen Kurzgeschichtenverfilmung beginnt. Zuvor widmet sich ein ausführlicher Prolog der Beziehung des Theaterregisseurs zu seiner Frau sowie der Einführung des Tschechowschen Stücks „Onkel Wanja“ als zentrales Element. Erste Puzzlestücke, die in geduldiger Erzählweise Hamaguchis inszenatorisches Fingerspitzengefühl etablieren und einen von Beginn an vielschichtigen und darstellerisch ungemein vereinnahmenden Sog induzieren.

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

Der Weg nach vorn

DRIVE MY CAR stützt sich weder auf die narrativen Eckpfeiler eines klassischen Road-Movies noch lässt er tiefgreifende Ähnlichkeiten zu anderen Chauffeur-Filmen wie GREEN BOOK oder MISS DAISY UND IHR CHAUFFEUR erkennen. Vielmehr besticht Hamaguchis neuster Film durch eine ungezwungene Authentizität und Alltäglichkeit, die sich nur zu Gunsten einzelner organisch verflochtener Theaterverknüpfungen biegt. Große Wirkung liegt dabei in den ausdauernden Beobachtungen der Figuren, dem Beiwohnen bei Proben und den intimen Gesprächen, in denen sich die zwischenmenschlichen Beziehungen und nachhaltige Charaktereinblicke lebendig und mit selbiger Ernsthaftigkeit sowie packend dargestellt entfalten können.

Hidetoshi Nishijima spielt den engagierten Regisseur, unter dessen regungsarmer Mine sich zahlreiche Emotionen aufstauen, zurückhaltend und mimt gewissenhaft die unterschiedlichsten Facetten seiner Figur als Inszenator, Liebhaber, Vater und Trauernder, – häufig distanziert, aber präzise und insbesondere im Zusammenspiel mit der jüngeren Toko Miura äußerst einprägsam. Deren wortkarge, als Fahrerin für den Theaterregisseur angestellte Figur hat eine nicht minder tragische Vergangenheit hinter sich, welche auch ihre zurückhaltende Mimik zunächst zu verschleiern weiß. Das Aufeinandertreffen beider Figuren kristallisiert entscheidende biografische wie emotionale (Schuld-)Konflikte heraus und entfesselt zunehmend eine eindringliche Figurendynamik, welche nach einigen voneinander distanzierten Autofahrten vor allem das letzte Drittel des Films für sich einnimmt.

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

In ruhigen Beobachtungen verdichten sich ausführliche Dialoge die mehrschichtigen Charaktermomente. Von beengenden und virtuos umgesetzten Wortwechseln innerhalb des Autos bishin zu Gefühlsoffenbarungen in verschneiter Landschaft stellen die Bilder dem Gesagten einen visuell unaufgeregten Rahmen, der ergänzend zu den Worten gleichsam einfach, aber dennoch bemerkenswert ist. Szenen am Esstisch oder während der Theaterproben werden nahbar, übersichtlich und durch das Gespür der Kamera für einzelne Mimiken und Blicke der Figuren niemals nebensächlich oder reizlos eingefangen.

Die Sprache der Sprachlosigkeit

Darüber hinaus ist DRIVE MY CAR ein multilingualer Film. Nicht nur, weil der japanische Spielfilm ein Theaterstück des russischen Dramatikers Anton Tschechow zum Kernstück hat, sondern auch, weil der Sprache und der (Miss-)Kommunikation zwischen Figuren und Handlungen immer wieder eine zentrale Rolle zukommt. Neben japanisch, koreanisch und englisch auch in Form von der Sprache mit Gebärden, die mit ihrer seltenen Repräsentation im Kino eine beeindruckende Frische sowie enorme Ausdrucksstärke mit sich bringt und in einzelnen Szenen eine spannungsgeladene Stille erzeugt, wie sie im gegenwärtigen Kino viel zu häufig vermisst wird.

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

Aus der gediegenen Erzählweise zieht der Film letztendlich die Kraft, die es benötigt, sich in die Köpfe seiner Zuschauer*innen zu spielen. Die Behandlung schwerer existentieller Themen wie Tod und Schuld überlässt Hamaguchi keinen manipulativen Soundtracks oder übergewichtigen Symbolen, sondern klug gewählten Worten und Emotionen ohne melodramatische Überhöhung. Andere Filme wären vermutlich der Verlockung erlegen, Parallelen in einzelnen Handlungssträngen zu betonen, die sich in DRIVE MY CAR letztendlich nur filigran andeuten oder Situationen auszuformulieren, bei denen das Licht der Straßenlaternen ausreicht, um die Gefühlsregungen der Charaktere offenzulegen. Ryusuke Hamaguchi gelingt mit seinem neusten Film ein Meisterstück, welches in seinem feinsinnigen Abwägen zwischen ernsthaften und erwachsenen sowie hoffnungsvollen und herzlichen Momenten kein Wort zu viel sagt und keine Minute seiner Laufzeit vergeudet.

Fazit

Nach Lee Chang-dongs BURNING ist DRIVE MY CAR eine weitere bravouröse Umsetzung eines Murakami-Stoffes, angenehm entschleunigt und dennoch unheimlich ausdrucksstark. Ein zutiefst menschlicher Film mit vielschichtigen Figuren, gewissenhafter Kameraarbeit und komplexen Gefühlen und Gedankengängen. Eine packende, dreistündige Kurzgeschichtenverfilmung mit herausragenden Darsteller*innen in nachdenklichen Wortwechseln und umso beeindruckenderen Momenten vollkommener Stille.

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Originaltitel Doraibu mai kâ (ドライブ・マイ・カー)
Kinostart 23.12.2021
Länge ca. 179 Minuten
Produktionsland Japan
Genre Drama
Verleih Rapid Eye Movies
FSK unbekannt

Regie Ryûsuke Hamaguchi
Drehbuch Ryûsuke Hamaguchi | Haruki Murakami (Vorlage) | Takamasa Oe
Produzierende Tsuyoshi Gorô | Misaki Kawamura | Tamon Kondô | Osamu Kubota | Eun-Kyoung Lee | Sachio Matsushita | Yoshito Nakabe | Kazuo Nakanishi | Keiji Okumura | Yûji Sadai | Jin Suzuki | Teruhisa Yamamoto
Musik Eiko Ishibashi
Kamera Hidetoshi Shinomiya
Schnitt Azusa Yamazaki

Besetzung Rolle
Hidetoshi Nishijima Yûsuke Kafuku
Tôko Miura Misaki Watari
Reika Kirishima Oto
Yoo-rim Park Lee Yoon-a
Dae-Young Jin Kon Yoon-su
Sonia Yuan Janice Chan
Satoko Abe Yuhara
Masaki Okada Kôji Takatsuki
Perry Dizon
Ahn Hwitae

 

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