FilmkritikFakten + Credits

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

Die Romane und Erzählungen von Haruki Murakami zählen zu den bekanntesten und populärsten Büchern moderner japanischer Literatur. Sein schriftstellerisches Schaffen wurde vielfach ausgezeichnet, 2006 etwa mit dem Franz-Kafka-Literaturpreis. Lee Chang-dongs Verfilmung seiner Kurzgeschichte „Scheunenabbrennen“ wurde 2018 bei den internationalen Filmfestspielen von Cannes uraufgeführt und erhielt unter dem Titel BURNING den FIPRESCI-Preis sowie große internationale Aufmerksamkeit. Mit der Umsetzung einer Erzählung von 2014 bringt nun auch Ryûsuke Hamaguchi (HAPPY HOUR, ASAKO) einen Murakami-Stoff auf die große Leinwand.

DRIVE MY CAR, der ebenfalls in Cannes Premiere feierte, basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte Murakamis und ist im Rennen um den Fremdsprachen-Oscar 2022 Japans Nominierungskandidat. Bei den 74. Internationalen Filmfestspielen erhielt er bereits im Sommer den Preis für das beste Drehbuch sowie die Gunst der FIPRESCI- und der ökumenischen Jury. Das knapp drei Stunden üppige Werk lässt seine literarische Vorlage nicht verkennen, besticht darüber hinaus durch seine wenigen, aber tiefschürfenden Charaktere und eine filmischen Entschleunigung, wie sie dem zeitgenössischen Kino immer wieder guttut.

Darum geht es …

Yūsuke Kafuku ist Schauspieler und Theaterregisseur, seine Frau Oto, eine Autorin, mit ungewöhnlicher Art zu Arbeiten. Als die Zweisamkeit von einem Schicksalsschlag gestört wird, sieht sich Kafuku zum zweiten Mal in seinem Leben mit einem schweren Verlust konfrontiert. Zwei Jahre später entscheidet er sich, im Rahmen eines Theaterfestivals in Hiroshima erneut ein Bühnenstück zu inszenieren. Zu seinem anfänglichen Unwillen wird ihm eine junge Frau als persönliche Fahrerin zur Seite gestellt, der er nach und nach seine Vergangenheit anvertraut …

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Rezension

Es vergehen vierzig Filmminuten bis die ersten Anfangscredits unscheinbar um den roten Saab 900 eingeblendet werden und mit ihnen der Hauptteil des dreistündigen Spielfilms beginnt. Zuvor widmet sich ein ausführlicher und bedächtig inszenierter Prolog der Beziehung des Regisseurs zu seiner Frau sowie der Einführung des Tschechowschen Theaterstücks „Onkel Wanja“ als zentrales Element. Behutsam beginnt Hamaguchi das ambivalente Beziehungsgefüge der Charaktere zu schildern und lässt die Wichtigkeit seiner geduldigen Erzählweise erst im Verlauf der Handlung deutlich erkennen. Dennoch sorgen sein Fingerspitzengefühl in der Figurenzeichnung und die narrative Gewichtung, insbesondere der große Spielraum für das Theater, etwaige Metareflexionen und Otos Fantasien als Drehbuchautorin, bereits von Anfang an für einen vielschichtigen und darstellerisch vereinnahmenden Sog, der in vielen der 179 Minuten wirksam wird.

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

Der Weg nach vorn

DRIVE MY CAR verlässt sich weder auf die Eckpfeiler eines klassischen Road-Movies noch auf die Einbindung von Buddy-Movie-Elementen und lässt auch sonst keinerlei tiefgreifende Ähnlichkeiten zu Filmen wie GREEN BOOK oder MISS DAISY UND IHR CHAUFFEUR erkennen. Vielmehr besticht Hamaguchis neuster Film durch seine Ungezwungenheit und eine hohe Authentizität, die sich nur zu Gunsten einzelner organisch verflochtener Theateranleihen wie der „Rivalität“ zu einem jungen, aufbrausenden Schauspieler und dessen hitzigen Reaktionen, beugt. Die größte Stärke liegt dabei in den Beobachtungen der Figuren und ihren überzeugenden Darsteller*innen. Sind Haruki Murakamis Geschichten häufig wegen ihrer surrealen Einschläge bekannt, sind es hier die zahlreichen zwischenmenschlichen und charakterstarken Momente, die der Geschichte eine Form von ernsthafter, lebensnaher und lebensbejahender Magie verleihen.

Hidetoshi Nishijimas Figur Kafuku ist dabei kein Mann großer Emotionen, einer, der seine Mundwinkel selten vor Wut oder zu einem Lächeln verzieht, aber einer unter dessen gezeichneten Gesicht sich viele unterdrückte Gefühle anstauen. Nishijima spielt subtil, mimt gewissenhaft die unterschiedlichsten Facetten seiner Figur als Regisseur, Liebhaber, Vater und Trauernder,- häufig distanziert, aber stets auf den Punkt und auch mit wenigen Mitteln unheimlich wirkungsvoll. Eine ähnliche Entwicklung durchläuft die von Toko Miura gespielte Fahrerin Misaki, deren Hintergrundgeschichte greifbar wie tragisch, deren Mimik zurückhaltend, aber ebenso verschleiernd ist. Zwei Charaktere, denen vor allem das letzte Drittel des Films gehört, obwohl sie zunächst nicht mehr als ein paar Autofahrten zusammenhält.

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

In den ruhigen Beobachtungen des Films werden die Charaktere vor allem durch ihre Dialoge, die bis zu fünfzehn Minuten an ein und demselben Ort ausgetragen werden, offengelegt und zusammengeschweißt. Von beengenden und virtuos umgesetzten Wortwechsel innerhalb des Autos bishin zu Gefühlsoffenbarungen in verschneiter Landschaft geben die Bilder dem Gesagten einen visuellen Rahmen, der ergänzend zu den Worten gleichsam einfach, aber auch bestechend ist. Szenen am Esstisch oder während der Theaterproben werden nahbar, übersichtlich und durch das Gespür der Kamera für einzelne Mimiken und Blicke der Figuren niemals nebensächlich oder reizlos eingefangen.

Die Sprache der Sprachlosigkeit

DRIVE MY CAR ist ein multilingualer Film. Nicht nur, weil ein japanischer Spielfilm das Theaterstück des russischen Dramatikers Anton Tschechow zum Kernstück hat, sondern auch, weil die Sprache und das Thema der Kommunikation zwischen Figuren und Handlungen immer wiederkehren. Neben japanisch, koreanisch und englisch kommt auch der Gebärdensprache eine große Bedeutung zu, die mit ihrer Seltenheit im Kino eine beeindruckende Frische und enorme Ausdrucksstärke mit sich bringt. Dem folgend entwirft Hamaguchi Szenen mit spannungsgeladener Stille, wie sie im heutigen Kino viel zu häufig vermisst wird.

Drive My Car

Drive My Car ©2021 Rapid Eye Movies

Aus der gediegenen Erzählweise zieht der Film letztendlich die Kraft, die es benötigt, sich in die Köpfe seiner Zuschauer*innen zu spielen. Die Behandlung schwerer existentieller Themen wie Tod und Schuld überlässt Hamaguchi keinen manipulativen Soundtracks oder übergewichtigen Symbolen, sondern klug gewählten Worten und reinen schauspielerischen Emotionen ohne melodramatische Überhöhung. Andere Filme wären vermutlich der Verlockung erlegen, Parallelen in der Geschichte zu betonen, die sich in DRIVE MY CAR letztendlich nur filigran andeuten oder Situationen auszuformulieren, bei denen das Licht der Straßenlaternen ausreicht, um die Gefühlsregungen der Charaktere offenzulegen. Ryusuke Hamaguchi gelingt mit seinem neusten Film ein Meisterstück, welches in seinem feinsinnigen Abwägen zwischen ernsthaften und erwachsenen sowie hoffnungsvollen und herzlichen Momenten kein Wort zu viel sagt und keine Minute seiner Laufzeit verschwendet.

Fazit

Selten war es für mich schwieriger, einen Film in abschließende Worte zu fassen. Eines ist sicher, nach Lee Chang-dongs BURNING ist DRIVE MY CAR eine weitere bravouröse Umsetzung eines Murakami-Stoffes, entschleunigt und expressiv. Ein zutiefst menschlicher Film mit vielschichtigen Figuren und komplexen Gefühlen und Gedanken, Szenen, deren Bedeutung sich erst mit der Zeit einordnen lassen, die das Nachdenken anregen und darüber hinaus berühren. Eine packende, dreistündige Verfilmung mit starken Schauspieler*innen in zahlreichen Wortwechseln und beeindruckenden Momenten vollkommener Stille.

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Originaltitel Doraibu mai kâ (ドライブ・マイ・カー)
Kinostart 23.12.2021
Länge ca. 179 Minuten
Produktionsland Japan
Genre Drama
Verleih Rapid Eye Movies
FSK unbekannt

Regie Ryûsuke Hamaguchi
Drehbuch Ryûsuke Hamaguchi | Haruki Murakami (Vorlage) | Takamasa Oe
Produzierende Tsuyoshi Gorô | Misaki Kawamura | Tamon Kondô | Osamu Kubota | Eun-Kyoung Lee | Sachio Matsushita | Yoshito Nakabe | Kazuo Nakanishi | Keiji Okumura | Yûji Sadai | Jin Suzuki | Teruhisa Yamamoto
Musik Eiko Ishibashi
Kamera Hidetoshi Shinomiya
Schnitt Azusa Yamazaki

Besetzung Rolle
Hidetoshi Nishijima Yûsuke Kafuku
Tôko Miura Misaki Watari
Reika Kirishima Oto
Yoo-rim Park Lee Yoon-a
Dae-Young Jin Kon Yoon-su
Sonia Yuan Janice Chan
Satoko Abe Yuhara
Masaki Okada Kôji Takatsuki
Perry Dizon
Ahn Hwitae

 

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