Erste Aufmerksamkeit erhielt der im Tschad geborene Regisseur Mahamat-Saleh Haroun bereits durch seine Kurzfilme, bevor sein Spielfilmdebüt BYE BYE AFRICA 1999 bei den Filmfestspielen von Venedig ausgezeichnet wurde. Seitdem ist er mit seinen Werken regelmäßig auf Filmfestivals rundum den Globus zu Gast, für DRY SEASON erhielt er in Venedig den Spezialpreis der Jury, 2010 mit seinem Film EIN MANN, DER SCHREIT den Preis der Jury in Cannes. Mit seinem neusten Film war er vergangenes Jahr erneut, diesmal jedoch unprämiert in den Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes eingeladen worden.
Mit LINGUI – HEILIGE BANDE inszeniert Mahamat-Saleh Haroun ein ungeschöntes Sozialdrama, welches sich thematisch nahe Eliza Hittmans 2020 erschienenen Spielfilm NIEMALS, SELTEN, MANCHMAL, IMMER bewegt und die Geschichte eines Schwangerschaftsabbruch diesmal im zentralafrikanischen Tschad beleuchtet. Auch dort sind Abtreibungen verboten, wenngleich sie von einigen Ärzten offen, jedoch unter schwierigsten Bedingungen praktiziert werden. In seinem siebten Spielfilm wagt Haroun eine Annäherung an ein Schicksal, wie er es oft zuvor gesehen hat: Frauen am äußersten Rand der Gesellschaft, die er selbst in einem Interview als „unbesungene Heldinnen des Alltags“ überschreibt. Die zurückhaltend und beinah dokumentarisch eingefangene afrikanisch-europäische Koproduktion wurde beim Torino Film Festival 2021 in Turin mit dem Award for the Respect of Minotiry Rights and Laity ausgezeichnet.
Darum geht es
In einem Vorort der tschadschen Hauptstadt N’Djamena lebt Amina mit ihrer 15-jährigen Tochter Maria ein bescheidenes Leben. Als alleinerziehende Mutter, die selbst im jungen Alter ein Kind bekommen hat, steht sie am Rande der Gesellschaft und verdient nur notdürftig Geld. Nach einer Vergewaltigung wird ihre Tochter schwanger, will das Kind jedoch nicht austragen. In ihrem Umfeld, in dem Abtreibungen sowohl vom Glauben als auch per Gesetz verboten sind, sieht sich die kleine Familie zunehmend mit Ausgrenzung und Herabwürdigung konfrontiert, die Maria ihrer freien Entscheidung berauben. Erst ist es die Bildung, die ihr verwehrt wird, dann sind es auch die örtlichen Nachbarn, die Glaubensgemeinschaft und Ärzte, die sich gegen sie wenden und die junge Schwangere auf gefährliche Wege bringen …
Rezension
Frei von künstlichen Überdramatisierungen und in unbequem realistischen Bildern erzählt der Regisseur vom Schicksal einer jungen Frau, der aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft noch mehr struktureller Unmut entgegenschlägt als ohnehin. LINGUI – HEILIGE BANDE verschleiert und verzerrt seine Tabuthemen nicht, der Film legt die Missstände unzweifelhaft offen. Die Milieuseinblicke sind nüchtern und roh, aus Sicht der jungen Frau und deren Mutter zusätzlich abweisend und chancenlos. Nur selten wohnt Szenen Befreiung oder Ablenkung Inne, und wenn, dann sind diese nur von kurzer Dauer. Die immer wiederkehrenden Verkehrsgeräusche und das Eintauchen in die einfachen Lebensverhältnisse am Stadtrand N’Djamenas sind dabei nur die Spitze des Realismus, der das patriarchale und zum Teil im Glauben gefestigte System desillusionierend darlegt. Abwendung, Bevormundung und Diskriminierung sowie mangelnde Aufklärung und Hilfeleistungen führen konsequent zu Gefühlsausbrüchen und selbstverletzenden Verhalten, in der einfachen Struktur des Films letztendlich zu stillen Eskalationen und Zuspitzungen.
Heilige Bindung?
Mit großer Authentizität tragen die Darstellerinnen, die größtenteils über wenig Schauspielerfahrung verfügten, die Geschichte, als hätten sie im Film gezeigte Situationen schon am eigenen Leib erlebt. Gefangen in ihrem Vororts-Milieu, dem Spannungsverhältnis zwischen Religion und eigener Lebensrealität und gesetzlichen Vorschriften werden ihre vielschichtigen Probleme selten ausformuliert aber doch deutlich. Denn die Charaktere, gespielt von Achouackh Abakar Souleymane und Rihane Khalil Alio, stehen stets im Vordergrund, während einzelne tragende Gesichter des Patriacharts unheilvoll im Schatten und somit im Hintergrund verschwinden.
Gleichzeitig erfährt der titelgebende tschadsche Begriff LINGUI, welchen der Regisseur als eine bestimmte soziale Verbindung beziehungsweise ein altruistisches Lebensverständnis umschreibt, eine unterschwellig mehrdeutige Auseinandersetzung. Viele der Dinge bleiben jedoch unausgesprochen oder geschehen in nur wenigen Worten, die die Kamera von Mathieu Giombini mit ausreichender Ruhe einfängt. Gesichter, Blicke und Körperhaltungen der Protagonistinnen wissen häufig noch etwas mehr zu erzählen. Niemals stellen sich die Bilder vor wortkarge Charaktere oder die tragische Geschichte, oft geben sie nur den Rahmen der Geschehnisse vor.
Fazit
LINGUI – HEILIGE BANDE erzählt ungeschönt von ungewollter Schwangerschaft und chancenlosen Schicksalen von Frauen in den patriarchalen Strukturen des Tschad. Intersektioneller Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt, sind Amina und ihre Tochter Maria der Gesellschaft und ihrer Umgebung gegenüber oft ohnmächtig. Ihre Geschichte ist tragisch und dennoch nicht vollkommen trostlos, trotz der Kürze der Laufzeit nicht immer kurzweilig, sondern in seiner nüchternen Erzählweise unbequem und kräftezehrend. Authentisch gespieltes, packendes wie auch schwer verdauliches Kino aus Zentralafrika.
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Originaltitel | Lingui |
Kinostart | 14.04.2022 |
Länge | ca. 87 Minuten |
Produktionsland | Tschad | Frankreich | Belgien | Deutschland |
Genre | Drama |
Verleih | déjà-vu Filmverleih |
FSK | unbekannt |
Regie | Mahamat-Saleh Haroun |
Drehbuch | Mahamat-Saleh Haroun |
Produzierende | Melanie Andernach | Anne Berger | Diana Elbaum | Florence Stern |
Musik | Wasis Diop |
Kamera | Mathieu Giombini |
Schnitt | Marie-Hélène Dozo |
Besetzung | Rolle |
Achouackh Abakar Souleymane | Amina |
Rihane Khalil Alio | Maria |
Youssouf Djaoro | Brahim |
Briya Gomdigue | Fanta |
Saleh Sambo | Imam |
Hadje Fatime N’Goua | Sage-femme |
Hamid Khayar | Dr. Adoum |
Emmanuel M’Baide Rotoubam | Sauveur fleuve |
Adjidé Mahamat | Exciseuse |
Aïssa Mbogo | Colette |
Hawa Abdelhakim | Halime |
Leïla Ousmane Gam | La proviseure |
Chanceline Allah-Odoum Guinlar | Bintou |
Darassalam Tahir | Maïmouna |
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