Originaltitel: Titane
Kinostart: 07.10.2021
Länge: ca. 108 Minuten
Produktionsland: Frankreich | Belgien
Regie: Julia Ducournau
Schauspieler:innen: Vincent Lindon | Agathe Rousselle | Garance Marillier
Genre: Drama | Sci-Fi | Thriller
Verleih: Koch Films
Zweiter Spielfilm, zweite Nominierung in Cannes und somit zweiter großer Erfolg für die 38jährige Regisseurin und Drehbuchautorin Julia Ducournau, die mit TITANE diesmal sogar den Hauptpreis im Wettbewerb der Goldenen Palme abräumen konnte. Um dies zu schaffen geht Mrs. Ducournau ungewöhnliche Wege, denn bereits ihr erster Film RAW hat in Publikumskreisen weiträumig für Empörung gesorgt, angesichts der ekelhaften Aufarbeitung des Themas Kannibalismus. Auch wenn bei gerade einmal zwei Langspielfilmen noch nicht von einer künstlerischen Richtung zu sprechen ist, zeichnet sich doch schon jetzt ab, dass die Regisseurin Gefallen am Body-Horror findet und sich auf dieser Schiene weiterentwickeln wird. Da es sich bei TITANE um eine Art Charakterstudie handelt, setzt Ducournau auf eine völlig unbekannte Debütantin in der Hauptrolle, um jegliche Erwartungen außenvor zu lassen. Mit Vincent Lindon wird der unerfahrenen Agathe Rousselle jedoch ein etablierter Künstler an die Seite gestellt.
Die Produktion selbst fiel der Corona-Pandemie zum Opfer. Nachdem die Regisseurin rund 5 Jahre das Drehbuch ausgearbeitet hat, musste die Produktion im vergangenen Jahr für mehrere Monate unterbrochen werden und konnte erst im September 2020 ein Ende finden.
Darum geht es…
Nachdem Alexia bereits in jungen Jahren nach einem Unfall eine Titanplatte in den Kopf eingesetzt bekommt, entwickelt sich bei ihr ein großes Interesse für mechanische und metallische Gegenstände. Somit ist es nicht ungewöhnlich, dass sie sich sehr für Autos interessiert und fast schon eine tiefere Verbindung mit ihnen eingeht. Als Sexsymbol wird sie von Männern umworben, denn als erotische Tänzerin bei Auto-Shows entfaltet sie eine ganz eigene erotische Wirkung. Demgegenüber steht jedoch ihre massive Selbstbestimmung, durch welche sie sich nicht an andere Personen bindet und sich das nimmt, was sie braucht. Nachdem sie einige eiskalte Morde begangenen hat, muss sie jedoch fliehen und ein neues Leben beginnen. Durch Zufall findet sie eine Möglichkeit die Identität einer anderen Person anzunehmen und damit einen neuen Lebensmittelpunkt zu finden. Doch wird sie die Selbstgeißelung vor der Wahrheit retten?
Rezension
Schon im Vorfeld ist klar, dass uns hier ein äußerst ungewöhnlicher Film erwartet, denn bekanntermaßen sind die bepreisten Filme in Cannes immer wieder von enormer Skurrilität geprägt, wie zuletzt auch Werke wie PARASITE oder BLAU IST EINE WARME FARBE. Ungeachtet dessen liefert dieser Preis häufig einen spannenden Einblick in das internationale Kino und erstaunliche Produktionen. TITANE gehört zu den Filmen, die auf zwei verschiedenen Ebenen fungieren und funktionieren. Einmal auf der reinen Handlungsebene und einmal auf der Interpretationsebene. Aus diesem Grund wird auch im Laufe dieser Besprechung immer wieder differenziert und es sei sogleich angemerkt, dass nicht endgültig klar ist, ob der Regisseurin bewusst war während der Dreharbeiten, welche Arten der Interpretation möglich sind und sie sich tatsächlich nur auf eine recht ungewöhnliche Story konzentriert hat.
Schon die Geschichte von TITANE wird viele Verwirrungen bei den Zuschauenden hervorrufen. Ähnlich wie wir es von Gaspar Noés Film IRREVERSIBLE bereits kennen, bekommen wir einen ziemlich drastischen Einstieg gezeigt, der das Publikum mit Leichtigkeit überfordern wird und hin und wieder auch einige unerträglich brutale Szenen präsentiert und welcher sich schlussendlich in eine völlig andere Stimmungsrichtung orientiert. Die Handlung spaltet sich somit in zwei verschiedene Teile. Ziemlich genau in der Mitte des Films kommt ein Bruch, bei welchem die Story aus der von Nacktheit und Kaltblütigkeit geprägten Entwicklung ausbricht und weggeht von gewissen Oberflächlichkeiten hin zur Persönlichkeit hinter den Figuren. Hierfür wurde jedoch ein eher fließender Übergang gewählt, der sich somit nicht so deutlich abzeichnet, wie wir ihn bei WAVES gesehen haben, aber dennoch erkennbar bleibt.
Oberflächlich betrachtet
Die Hauptfigur selbst, die von Agathe Rousselle verkörpert wird, welche bisher nur in Kurzfilmen zu sehen war, scheint anfangs geprägt zu sein von Starallüren, die sie selbst auf eine andere Ebene des Seins stellt und mit welchen auch eine gewisse Eitelkeit verbunden scheint. So lebt sie ihre verhaltensgestörte Persönlichkeit ungehindert aus und nimmt sich, was sie will. Rousselle schafft es beeindruckend gut der Figur Leben einzuhauchen und zeitgleich eine ungewisse Ebene aufzubauen, auf der das Publikum stets rätselnd dasitzt und überlegt, wo es die Figur einordnen sollte, oder ob nicht gar der Begriff Psychopathin der einzig treffende wäre. Im zweiten Part der Story schafft es Rousselle eine komplett gegenteilige Persönlichkeit darzustellen und ihre Figur neu zu erfinden. Aus der extrovertierten jungen Frau wird nun eine introvertierte Persönlichkeit, die die Freuden des Lebens und einer Familie kennen lernt und sich mit einer neuen Lebenssituation neu auseinandersetzt.
Übrigens spielt auch hier wieder Garance Marillier mit, die bereits in RAW die Hauptrolle verkörperte. Schon damals spielte sie die Figur Justine und kehrt unter gleichem Rollennamen nun wieder zurück. Zufall oder bewusste Absicht lässt die Regisseurin jedoch offen.
All dies ohne die Interpretationsebene betrachtet, wirkt teilweise etwas sinnlos und hanebüchen und wird zudem von einigen unerklärlichen Kuriositäten geprägt. So gibt sich Rousselle in ihrer Rolle im zweiten Part als jungen Mann aus und somit als in jungen Jahren entführtes Kind, welches nun zur Familie zurückkehrt. Tatsächlich wird mittels Frisur, körperlicher Veränderungen und abstrakterem Verhalten tatsächlich dieser Eindruck erweckt, doch geschieht all dies während einer Schwangerschaft der Protagonistin, die auch teilweise sehr deutlich erkennbar ist. Somit gibt es mehrere Punkte in TITANE, an denen die Akzeptanz von ihr als Sohn nicht mehr gewährleistet sein dürfte und die Erkenntnis beim Vater gegeben sein müsste. Dies wird jedoch vollkommen übergangen. Auch die visuellen Aufarbeitungen durch schwarzes zähflüssiges „Blut“ sowie ein Kind, welches halb Mensch, halb Maschine ist sind nur schwer einzuordnen, bringen jedoch in der Nachbetrachtung ein deutlich klareres Bild.
Was steckt dahinter?
Schauen wir einmal genauer hin, so ist festzustellen, dass der Film von unzähligen Sinnbildern und Symbolen geprägt ist. So kann die gesamte Schwangerschaft als psychisches Selbstbild betrachtet werden, welche in der dargestellten Realität gar nicht existiert, sondern tatsächlich nur ein Bild der Selbsterneuerung der eigenen Persönlichkeit sein kann. So ist es schon recht auffällig, dass das Abbinden des Kinderbauchs auch bis in die späten Schwangerschaftswochen so hervorragend funktioniert, dass es der Statur nicht anzumerken ist. Das schwarze Blut soll laut Ducournau Ölflüssigkeit darstellen und damit die Innigkeit der persönlichen Beziehung zur kraftvollen Maschine „Auto“ fokussiert werden.
Auch der vermeintliche Vater scheint einfach nur eine Art der Trauerbewältigung einzugehen und durch die Aufnahme der Protagonistin eine Art Schuld von sich abzustreifen und deshalb dieses offensichtliche Spielchen mitzuspielen. Nicht mehr stark genug für die Suche nach dem eigenen Sohn (deshalb die Testosteron-Spritzen) pusht er sich selbst zumindest einer fremden verlorenen Seele, die gerade eine Selbsterneuerung durchmacht, entsprechenden Halt zu geben und die Protagonistin somit auf einen neuen Weg zu führen.
Fazit
Ihr merkt sehr deutlich, dass TITANE ein Film ist, der nicht einfach nur als reine Leinwandinszenierung funktioniert. So abstrus und seltsam vieles scheinen mag, so spannend ist es doch im Anschluss darüber zu sprechen und die Szenen detailliert auseinander zu klamüsern, was im Rahmen dieser Filmbesprechung nicht im Ansatz vollständig funktionieren könnte. Doch bleibt die Frage: ist ein Film gut, nur weil es viel über ihn zu besprechen gibt? Ich finde dieser Film zeigt recht deutlich, dass das nicht unbedingt der Fall sein muss, denn tatsächlich wirkt vieles so weird, dass ein durchgehender Filmgenuss gar nicht möglich ist und einfach auch viele inszenatorische sowie Interpretationsfragen offenbleiben. Auch die übermäßig düstere Gestaltung und die exzessive Brutalität sind etwas zu drastisch implementiert und schießen weit über die feine Dosierung von skandallösen Materialien, wie wir es in RAW gesehen haben, hinaus.
Fans vom Genrekino und Arthouse-Horror kommen hier mit Sicherheit auf ihre Kosten, doch darüber hinaus sehe ich nur wenige Zielgruppen, die sich mit dem Werk anfreunden werden können.
Gewinner der goldenen Palme und schon jetzt unter Genre-Fans als Publikumsliebling betrachtet, bietet uns TITANE das etwas andere Kino, welches es 2021 nur selten auf die Leinwand geschafft hat. Nachdem mit RAW bereits ein skandalträchtiger Film geschaffen wurde, der sehr gemischt aufgenommen wurde, aber letztlich doch großen Erfolg einfahren konnte, geht Regisseurin Julia Ducournau auch mit dem hiesigen Film ungewöhnliche Wege und zeigt uns einen vielseitigen Film, der zwischen Mitgefühl und totalem Wahnsinn alles parat hält. Brutal und geprägt von teils erotischer Nacktheit kombiniert mit einer spirituellen Selbsterneuerung bilden sich hier zwei sehr unterschiedliche Filmhälften, die in ihrer Darstellung viel Verwirrung parat halten, aber ein breites Interpretationsspektrum eröffnen. Ich persönlich finde den Film dennoch schwierig, weil er einfach viele ungeklärte Fragen zurücklässt und man auch in der Nachbetrachtung nicht deutlich entnehmen kann, ob der Regisseurin das Bedeutungsspektrum bewusst war und sie darauf abzielte. Durchaus kann TITANE einige wirklich starke Momente bieten und wird auf jeden Fall Gesprächsstoff sein, konnte aber dennoch nicht so überzeugen, dass ich von einer Begeisterung dafürsprechen könnte. Zudem erklärt sich mir bis heute nicht der überragende Erfolg bei der goldenen Palme.
Original title: Titane
Theatrical release: 07.10.2021
Length: approx. 108 minutes
Country of production: France | Belgium
Director: Julia Ducournau
Actors:inside: Vincent Lindon | Agathe Rousselle | Garance Marillier
Genre: Drama | Sci-Fi | Thriller
Distributor: Koch Films
Second feature film, second nomination in Cannes and thus the second big success for 38-year-old director and screenwriter Julia Ducournau, who this time even won the main prize in the Palme d’Or competition with TITANE. To achieve this, Mrs. Ducournau takes unusual paths, because her first film RAW already caused widespread outrage in audience circles, given its disgusting treatment of the subject of cannibalism. Even if it is not yet possible to speak of an artistic direction with only two feature films, it is already clear that the director enjoys body horror and will continue to develop along this path. Since TITANE is a kind of character study, Ducournau has chosen a completely unknown debutante in the leading role in order to leave all expectations aside. With Vincent Lindon, however, the inexperienced Agathe Rousselle is supported by an established artist.
The production itself fell victim to the Corona pandemic. After the director spent around 5 years working out the script, production had to be interrupted for several months last year and could only come to an end in September 2020.
That’s the story about
After Alexia has a titanium plate implanted in her head following an accident at a young age, she develops a great interest in mechanical and metallic objects. Thus, it is not unusual that she is very interested in cars and almost forms a deeper connection with them. As a sex symbol, she is courted by men, for as an erotic dancer at car shows, she develops an erotic effect all her own. In contrast to this, however, is her massive self-determination, through which she does not bind herself to other people and takes what she needs. However, after committing several ice-cold murders, she has to flee and start a new life. By chance, she finds a way to assume the identity of another person and thus find a new centre of life. But will self-flagellation save her from the truth?
Review
It is already clear in advance that we can expect an extremely unusual film here, because it is well known that the award-winning films in Cannes are always characterised by enormous bizarreness, as recently with works such as PARASITE or LA VIE D’ADÈLE (BLAU IST EINE WARME FARBE). Regardless, this award often provides an exciting insight into international cinema and amazing productions. TITANE is one of those films that function and work on two different levels. Once on the pure plot level and once on the interpretation level. For this reason, differentiation will be made again and again in the course of this review, and it should be noted right away that it is not definitively clear whether the director was aware during filming of which types of interpretation are possible and whether she really only concentrated on a rather unusual story.
Already the story of TITANE will cause a lot of confusion for the viewers. Similar to what we already know from Gaspar Noé’s film IRREVERSIBLE, we are shown a rather drastic opening, which will easily overwhelm the audience and now and then also presents some unbearably brutal scenes, and which is finally oriented in a completely different mood direction. The plot thus splits into two different parts. Pretty much in the middle of the film there is a break where the story breaks out of the development characterised by nudity and cold-bloodedness and moves away from certain superficialities towards the personality behind the characters. For this, however, a rather smooth transition was chosen, which is thus not as obvious as we saw in WAVES, but still remains recognisable.
Straight view
The main character herself, embodied by Agathe Rousselle, who has so far only been seen in short films, seems at first to be characterised by airs and graces that place her on another level of being and with which a certain vanity also seems to be associated. Thus she lives out her maladjusted personality unhindered and takes what she wants. Rousselle manages impressively well to breathe life into the character and at the same time to build up an uncertain level on which the audience always sits there puzzling over where it should classify the character or whether the term psychopath would not be the only appropriate one. In the second part of the story, Rousselle manages to portray a completely opposite personality and reinvent her character. The extroverted young woman now becomes an introverted personality who gets to know the joys of life and a family and comes to terms with a new life situation.
By the way is Garance Marillier part of the movie, too. She played in RAW the role of Justine and is shown here with the same charakter name.
All this, viewed without the level of interpretation, seems somewhat pointless and hare-brained at times and is also marked by some inexplicable curiosities. For example, in her role in the second part, Rousselle pretends to be a young man and thus a child who was abducted at a young age and is now returning to the family. In fact, by means of hairstyle, physical changes and more abstract behaviour, this impression is indeed created, but all this happens during a pregnancy of the protagonist, which is also very clearly recognisable at times. Thus there are several points in TITANE at which the acceptance of her as a son should no longer be guaranteed and the realisation should be given to the father. However, this is completely passed over. The visual reappraisals of black viscous “blood” and a child that is half man, half machine are also difficult to classify, but in retrospect they bring a much clearer picture.
Look a little bit deeper
If we take a closer look, we can see that the film is characterised by countless allegories and symbols. For example, the entire pregnancy can be seen as a psychological self-image, which does not exist at all in the reality depicted, but can in fact only be an image of the self-renewal of one’s own personality. It is quite striking, for example, that the tying of the child’s belly works so well, even into the late weeks of pregnancy, that it is not noticeable in the stature. According to Ducournau, the black blood is supposed to represent oil fluid and thus focus on the intimacy of the personal relationship with the powerful machine “car”.
The supposed father, too, seems to be simply entering into a mode of coping with grief and, by taking in the protagonist, stripping some kind of guilt from himself and therefore playing along with this obvious little game. No longer strong enough for the search for his own son (hence the testosterone injections) he pushes himself at least to give appropriate support to a strange lost soul who is going through a self-renewal and thus to lead the protagonist on a new path.
Conclusion
You notice very clearly that TITANE is a film that does not simply function as a pure screen production. As abstruse and strange as many things may seem, it is still exciting to talk about them afterwards and to analyse the scenes in detail, something that could not even begin to function fully within the framework of this film review. But the question remains: is a film good just because there is a lot to talk about it? I think this film shows quite clearly that this is not necessarily the case, because in fact many things seem so weird that a continuous enjoyment of the film is not possible at all and simply many questions of direction and interpretation remain unanswered. The overly dark design and excessive brutality are also implemented a little too drastically and shoot far beyond the fine dosage of scandalous material as we saw in RAW.
Fans of genre cinema and arthouse horror will certainly get their money’s worth here, but beyond that I can only see a few target groups who will be able to enjoy the work.
Schauspieler:in | Rolle |
Vincent Lindon | Vincent |
Agathe Rousselle | Alexia |
Garance Marillier | Justine |
Laïs Salameh | Rayane |
Mara Cisse | Jeantet |
Marin Judas | Charrier |
Diong-Kéba Tacu | Sissoko |
Myriem Akheddiou | Adriens Mutter |
Bertrand Bonello | Alexias Vater |
Céline Carrère | Alexias Mutter |
Adèle Guigue | Alexia mit 7 Jahren |
Thibault Cathalifaud | Fan auf der Tuning Show |
Dominique Frot | Macarena Dame |
Florence Janas | Alexias Doktor |
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