FilmkritikIn KürzeDas sagen die Kolleg:innen
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Originaltitel: Irréversible
Kinostart: 11.09.2003
Blu-ray – Release mit Straight Cut: 10.12.2020

FSK 18

FSK 18 ©FSK

Länge: ca. 97 Minuten
Produktionsland: Frankreich
Regie: Gaspar Noé
Schauspieler: Monica Bellucci | Vincent Cassel | Albert Dupontel
Genre: Drama | Thriller
Verleiher: StudioCanal Deutschland

Irreversibel

Irreversibel © 2019 STUDIOCANAL / LES CINÉMAS DE LA ZONE / 120 FILMS / TOUS DROITS RÉSERVÉS.

Diese Review kann Spoiler enthalten!

Skandalregisseur? Auf der Suche nach einem Eklat? Visionär und brillantes Filmgenie? Es gibt viele Begriffe wie man Gaspar Noé und seine Werke bezeichnen kann. Nur „normal“ kann der Mann nicht, und das ist auch gut so! Tatsächlich hat Noé noch nicht allzu viele Filme in seiner Karriere rausgebracht, auch wenn es so scheint als wäre er Teil der größten Regisseur:innen unserer Zeit. Und dies steht eigentlich nicht mal im Widerspruch, denn tatsächlich schafft es der 57jährige Argentinier immer wieder die Publikumsmassen zu entsetzen und zu begeistern zur gleichen Zeit. IRREVERSIBEL ist dabei gerade einmal sein zweiter Langspielfilm gewesen, der bereits dafür sorgte, dass die Zuschauenden Reihenweise vorzeitig die Kinosäle verließen. Das US-amerikanische Magazin Newsweek skandierte dieses Werk sogar als „most walked-out-of movie of the year“.

Tatsächlich könnte man zynisch sagen, dass Noé in diesem Falle gar nichts für den Skandalwert könne, denn tatsächlich gab es gerade einmal drei Seiten Drehbuch für den gesamten Film. Ihm war es äußerst wichtig, dass seine Darsteller:innen improvisieren und damit ihre Figuren natürlich gestalten können. Um das bestens zu ermöglichen arbeitete er für diesen Film mit den beiden namhaften Schauspieler:innen Monica Bellucci (bekannt aus MATRIX, JAMES BOND 007: SPECTRE) und Vincent Cassel (bekannt aus ALLES AUßER GEWÖHNLICH, UNDERWATER – ES IST ERWACHT, BLACK SWAN, DIE PURPURNEN FLÜSSE), die lange Zeit ein Paar waren und auch zwei gemeinsame Kinder haben, bis 2013 dann die endgültige Trennung folgte. Dieser Umstand sorgte jedoch dafür, dass es dem Schauspielduo in einigen Szenen deutlich einfacher fiel die ohnehin schon kontroverse Geschichte lebhaft zu visualisieren.

Darum geht es…

Alex und Marcus sind ein junges und dynamisches Liebespaar. Beide pflegen noch immer Kontakt zu Alex‘ Ex-Partner Pierre, der einerseits ein guter Freund von Marcus ist und noch immer eine enge Beziehung zu Alex aufrechterhält. Gemeinsam besuchen die drei eines Abends eine feucht fröhliche Party, die von Alkohol- bis Drogenkonsum, von Sex bis ausgelassenen Tanz alles zu bieten hat. Als auch Marcus eine Nase schnupft, wird es Alex zu viel und die Situation eskaliert in einen Streit, der sie veranlasst die Party vorzeitig zu verlassen. Hätte sie dies besser nicht getan, denn auf dem Heimweg erwartet sie eine böse Überraschung, die das Leben aller Beteiligter plötzlich drastisch verändern soll. Auch Pierre und Marcus verlassen kurz darauf die Party und machen eine tragische Entdeckung, die sie dazu veranlasst entgegen ihrer üblichen Art und Weise zu agieren und all ihre Manieren und Höflichkeiten zu vergessen.

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Rezension

Als angemessenen Einstieg in meine Review, muss wohl erst einmal klargestellt werden, dass ich hierfür die Straight Cut-Version gesehen habe, die dieses Jahr unter Gaspar Noés Aufsicht überarbeitet und veröffentlicht wurde. Wo ist der Unterschied zwischen der originalen Kinofassung und dem neuen Schnitt? Ganz einfach: Der eine Film erzählt die Geschichte vorwärts, der andere rückwärts. Klingt absurd? Ist es auch, aber tatsächlich möglich. Und um die Frage gleich noch zu klären – die Rückwärtserzählung war zuerst da. Sprich der oben beschriebene Plot geschieht eigentlich in komplett umgekehrter Reihenfolge. Ein Aspekt, der mir bei meiner ersten Sichtung noch gar nicht bewusst gewesen war und daher auch meine Entscheidung der Filmwahl nicht beeinflusst hat. Im Nachhinein stellt sich jedoch die Frage, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, die Kinofassung zuerst zu schauen.

Irreversibel

Irreversibel © 2019 STUDIOCANAL / LES CINÉMAS DE LA ZONE / 120 FILMS / TOUS DROITS RÉSERVÉS.

Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Hierzu muss anfänglich gesagt werden, dass IRREVERSIBEL ein Geniestreich der Filmkunst ist, denn wie oft ist es schon möglich einen Film einfach komplett umzukehren, der zudem in beiden Schnittfassungen auch noch total Sinn ergibt? Um nun die Frage zu klären, gehen wir erst einmal die Vor- und Nachteile der Straight Cut-Fassung durch. Gaspar Noé präsentiert uns einen überaus sinnlichen und erotischen Film, der vor allem durch extrem lange Einstellungen, teilweise bis zu 12 Minuten, geprägt ist und sich somit sehr viel Zeit lässt diverse Situationen zu schildern und die Personen vorzustellen. Während wir Cassel und Bellucci rund 10 Minuten nackt auf der Bildfläche zu sehen bekommen, schafft es Noé durch gut positionierte Kameraeinstellungen und den Einsatz eines atmosphärischen Scores hieraus keine pornographische Inszenierung entstehen zu lassen, sondern dies als Kunstwerk der Natürlichkeit zu präsentieren.

Hocherotisch in perfekter Bildgestaltung

Selten waren vergleichbare Szenen so sinnlich und ehrlich gestaltet wie hier und auch ohne das Wissen, dass Cassel und Bellucci auch im realen Leben in einer Partnerschaft zusammenlebten, ist diese Assoziation völlig naheliegend und geradezu selbstverständlich. Natürlich bleibt es nicht bei zehn Minuten voller Genialität, die sich dann im restlichen Film in Luft auflösen, ganz im Gegenteil. Dies war eher ein Auszug aus einem großen Gesamtkunstwerk, dass nicht nur inhaltlich, visuell und akustisch begeistert, sondern auch noch eine scharfe Gesellschaftskritik verkörpert und die Härte des Lebens in allen Facetten und ungeschönt präsentiert. Jede der 12 Plansequenzen (soweit man sie so nenne kann, denn eigentlich waren sie ja keineswegs geplant), hat ungefähr die gleiche Spieldauer und endet stets mit einem Kameraschwenk auf die Raumdecke, die teilweise auch dafür dient, einen weichen Schnitt zu kaschieren.

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Während in der gesamten ersten Hälfte die Kameraführung eher ruhig, bestimmt und gezielt ist und daher ein sehr angenehmes gucken ermöglicht, ist die zweite Filmhälfte geprägt von schnellen, abrupten und völlig zufälligen Bewegungen, die nie wirklich durchschaubar und somit von Unruhe geprägt sind. Dies macht es doch um einiges schwieriger die Geschehnisse zu verstehen oder überhaupt wahrzunehmen, insbesondere weil zunehmend das Licht spärlicher eingesetzt wurde und die Wahrnehmung dadurch zusätzlich eingeschränkt wird. Dies ist natürlich alles künstlerisch bedingt und sorgt dafür, dass bei den Zuschauenden ein ähnliches hibbeliges und nervöses Gefühl aufkommt wie im Werk selbst. Die dargestellten Emotionen sind somit eng an die eingefangenen Bilder geknüpft, die es wiederum schaffen im Publikum ähnlich rapide Stimmungs-Situation zu erzeugen wie auch bei den Protagonisten.

Dialog ohne Dialog?

Besonders stark ist wohl die Sequenz in der U-Bahn, als die drei Hauptdarsteller:innen auf dem Weg zur besagten Party sind. Die Kamera behält sich eine einzige Einstellung vor, die dennoch alle drei Personen stets im Bilde zeigt. Über einen längeren Zeitraum sind diese nun gezwungen ein enthusiastisches Gespräch zu inszenieren ohne jegliches Skript. Da Noé, wie schon angedeutet, keine Textsequenzen geschrieben hat, sondern vollkommen auf Improvisation setzte, ist es umso beeindruckender zu sehen, wie es Cassel, Bellucci und Dupontel schaffen diese Sequenz mit Leben zu füllen und nicht langweilig werden zu lassen. Eine außergewöhnliche schauspielerische Leistung, will ich meinen.

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Womit wir auch zu den drastischen Elementen von IRREVERSIBEL kommen, denn Noé mutet uns mit der Sequenz, nach der vorzeitig verlassenen Party, ziemlich was zu. Die Protagonistin wird eiskalt vergewaltigt und auf brutalste Form misshandelt und geschädigt. Guter Moment für jeden anderen Regisseur wegschneiden zu lassen, doch Noé hält auf die Szene gnadenlos drauf und zeigt dem Publikum die ungeschönte Realität, wie sie tagtäglich immer wieder auf der Welt geschieht. Immer wieder wird in der Welt gepredigt, dass die Menschen bei solchen Verbrechen nicht wegschauen dürfen – werden sie jedoch damit konfrontiert, so verlassen sie empört das Kino. Etwas widersprüchlich? Schließlich grenzt sich Noé geschickt von der Verherrlichung dieses Gewaltaktes durch seine Art der Darstellung ab, denn wir bekommen nicht etwa eine Frau zu sehen, die irgendwann resigniert, sondern die den gesamten Akt versucht sich mit aller Kraft zu wehren, verzweifelnd jedoch versagt.

Zerstörerisch und unerträglich

Ohne Frage ist eben jene Szene schockierend und verstörend. Nur schmerzhaft ist dies zu ertragen, aber ist es deshalb weniger wichtig darauf ungeschönt aufmerksam zu machen? Vor allem ist hierbei auch die brillante Art der Inszenierung anzumerken, denn die Plansequenz und der weitestgehende Verzicht auf Spezialeffekte sorgt dafür, dass es nicht so leicht war den Moment in dieser Genialität einzufangen. Laut Noé wurden Blutbeutel so platziert, dass der Antagonist diesen ungesehen während der Sequenz ergreifen kann und somit die Verletzungen geschickt gefaket werden können, ohne zu schneiden oder arg nachzubearbeiten. Zudem erforderte es äußerste Präzision der Darsteller die Schläge und Tritte so echt aussehen zu lassen. Als leidende Beobachtende sind wir als Publikum so nah dran an der Tat wie nie zuvor und werden durch die Bodenkamera in die gleiche demütige Haltung versetzt, die auch der Protagonistin ungewollt aufgezwungen wird.

Bis zu diesem Punkt bekommen wir wohl ein absolutes Meisterwerk zu sehen. Danach jedoch schießt Noé mit seiner Erzählung der Geschichte über das Ziel hinaus. Zwar schafft er es hervorragend die Abgründe des menschlichen Seins einzufangen und auch davon zu berichten, wie scheinbar gute Menschen in diese hineinrutschen können und von jetzt auf gleich sich ihr ganzes Leben verändern kann. Dennoch kann man dem letzten Drittel die Authentizität nicht mehr so richtig abkaufen. Die Geschichte wurde einfach zu sehr überdramatisiert und verlor dadurch deutlich an Glaubwürdigkeit. Zudem wäre dieser Ausbruch gar nicht mehr notwendig gewesen. Die gesamte aufgebaute Hetzjagd spiegelt sich in der emotionalen Lage der Protagonisten gut wider, schafft es mich jedoch nicht mehr zu überzeugen.

Irreversibel

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Vorwärts oder Rückwärts? – Das ist hier die Frage!

Kommen wir also zur Frage zurück, ob der Film besser als Kinofassung oder als Straight Cut geschaut werden sollte. Ich denke das die Kinofassung vor allem durch die unmittelbare und unvorbereitete Gewalt besticht, aber eben auch abschreckt. Zudem müssen die Zuschauenden erst einmal realisieren, dass hier in umgekehrter Reihenfolge berichtet wird, was wiederum für Verständnisprobleme sorgen könnte. Auch ist es leider unvorstellbar, dass die späteren Sequenzen, die dann eben durch ruhige und dialoglastige Parts geprägt sind, noch ausreichend zur Geltung kommen oder nicht gar zu einer Art Langeweile führen könnten. Im Gegensatz dazu bildet der Straight Cut eine spannend aufbauende Entwicklung, die es ermöglicht erst einmal die cineastische Kunst genießen zu können und dann mit voller Wucht unter die Haut geht und verstört. Unterm Strich erklärt sich mir die Wahl der umgekehrten Aufführung nicht so recht (ohne, dass ich sie gesehen hätte), da diese scheinbar keinen Mehrwert bieten könnte.

Was in jeder Version bleibt ist ein einzigartig starker Film, der äußerst lange nachwirkt und dabei nicht leicht zu verdauen ist. Daher stellt IRREVERSIBEL fast schon eine Art Pflichtlektüre für angehende Regisseure dar. Somit ist dies wohl der schrecklichste und begeisterndste Film, den ich bisher kennen lernen durfte. Eine Empfehlung gibt es allemal, nicht jedoch ohne anzumerken, dass zartbesaitete dieses Werk doch besser meiden sollten, denn es ist nicht auszuschließen, dass hier sogar langfristige Störungen nur vom Zusehen eine Folge sein könnten.

Es gibt sie nur äußerst selten, aber wenn wir sie zu Gesicht bekommen, dann sind sprechen sie in der Regel für Genialität: umgekehrt erzählte Filme. So ist neben Memento und 11:14 sowie 5×2 auch Irreversibel ein solches Werk, welches anfängt den Schluss zuerst zu erzählen und sich dann stetig zum Beginn durcharbeitet. Doch wohlgemerkt nur in der Kinofassung! Regisseur Gaspar Noé hat in seinem neuen Straight Cut das Ganze noch einmal auf links gedreht und zeigt uns nun auch die eigentlich korrekte Reihenfolge des Films. Ungesehen der originalen Fassung, würde ich jedoch stets den neuen Cut empfehlen, da dieser die ohnehin schon krasse Geschichte zumindest im Verständnis enorm vereinfacht. Hier sei auch gleich angemerkt, dass zartbesaitete sich dringlichst fern halten sollten von diesem Film, denn Sex und Gewalt der krassesten Art sind ebenso Bestandteile wie ausgelassene und heitere Stimmung und sinnliche Darstellungen. Es fällt äußerst schwer die gezeigten Ereignisse angemessen zu verdauen und die Ereignisse hängen lange nach. Doch was wir auch bekommen: einen außergewöhnlich scharfsinnigen und sehr präzise auf den Punkt gebrachten Film, der ein künstlerisches Meisterwerk darstellt und inhaltlich gleich auf mehreren Ebenen fasziniert und schockiert zur selben Zeit. Zudem sind die Produktionshintergründe äußerst interessant, denn nicht alles war so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint. Absolut lohnenswert und dennoch ist es niemandem zu verdenken, der hier scharfe Kritik übt und diesen Film als Skandal bezeichnet.

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