Immer dann, wenn ein Mensch mit besonders bestialischem Verhalten und äußerst grausamen Taten in Erscheinung tritt, wird gerne der Vergleich zu einem wilden Tier gezogen. Eigentlich ein recht unglückliches Bild, wenn man bedenkt, dass Sadismus eine Eigenschaft ist die alleine der menschlichen Spezies vorbehalten ist. Die Freude daran einem anderen Lebewesen psychische oder physische Schmerzen zuzufügen, findet man in dieser Form in der Tierwelt nämlich nicht. Dennoch muss die Metapher des grausamen Tieres auch für den Titel des belgischen Ausnahmefilms ANIMALS – WIE WILDE TIERE als Bildnis herhalten. Dabei übersteigt die darin erzählte Geschichte mit all ihren menschenverachtenden und hasserfüllten Handlungen jede Art von perfider Gewalt, zu der kein Tier je imstande wäre. In dem auf wahren Begebenheiten basierenden dramatischen Thriller verfolgt Regisseur Nabil Ben Yadir die Geschehnisse einer unbeschreiblich grausamen Nacht, in der ein unschuldiger Mann sein noch viel zu junges Leben lassen musste – einzig und allein wegen seiner Homosexualität.
Als der 32-jährige Belgier Ihsane Jarfi am 22. April 2012 nach einem Clubbesuch spurlos verschwindet, wird sein mit unzähligen Verletzungen übersäter nackter Körper trotz groß angelegter Suchaktion erst nach zehn Tagen zufällig von zwei Wanderern auf einem abgelegenen Feld gefunden. Der junge Moslem wurde nach dem Verlassen der Bar von vier Männern entführt, gefoltert und schließlich auf brutale Weise ermordet. Die Tat gilt juristisch als erster homophober Mord Belgiens, der auf Basis des dort im Jahr 2003 eingeführten Gesetzes gegen Hassverbrechen geahndet wurde. Die niederen Beweggründe, die die Täter dazu veranlassten Ihsane Jarfi kaltblütig zu ermorden, erschütterten Menschen auf der ganzen Welt.
Darum geht es…
Als homosexueller Moslem hat es Brahim (Soufiane Chilah) nicht gerade leicht. Die Beziehung zu seinem Freund Thomas, mit dem er schon seit fünf Jahren zusammen ist, hält der 30-Jährige vor seiner Familie geheim. In seinem religiösen Elternhaus ist gleichgeschlechtliche Liebe ein absolutes Tabuthema. Nur sein Bruder weiß über seine Sexualität Bescheid, ist davon aber alles andere als angetan. Dass Brahim seinen Freund zur großen Geburtstagsfeier seiner Mutter eingeladen hat, sorgt für Komplikationen, infolge derer ein Streit zwischen den beiden Geschwistern entbrennt. Daraufhin verlässt der junge Belgier die Partygesellschaft zu später Stunde, um sich auf die Suche nach Thomas zu machen. Als er diesen in einer einschlägigen Schwulenbar, in der die beiden regelmäßig verkehren, nicht vorfindet, kommt es zu einer schicksalsträchtigen Begegnung.
Rezension
ANIMALS – WIE WILDE TIERE ist ein erschütternder Thriller über Vorurteile und Selbsthass, ein brandgefährlicher Cocktail, der als Zündstoff für unbändigen Hass dient, welcher sich letztendlich in unvorstellbarer Grausamkeit entlädt. Es ist nicht nur das tragische Schicksal des Protagonisten Brahim, der von Soufiane Chilah mit einer brillanten Darbietung verkörpert wird, das Nabil Ben Yadir interessiert, sondern auch die Frage nach dem Warum. Was muss mit einem Menschen geschehen, um ihn zu solch einer verabscheuungswürdigen Tat zu bringen? Sein Ziel ist es dabei jedoch nicht eine rationale Erklärung oder gar eine Entschuldigung zu finden, sondern die gesamte Geschichte des Verbrechens zu betrachten und gleichzeitig die Auswirkungen auf das Leben eines Täters zu beleuchten. Ein interessanter neuer erzählerischer Ansatz, der den Film in seiner Effektivität zwar ein wenig zurückwirft, aber einen unkonventionellen Blickwinkel auf ein Verbrechen wirft.
Hier werden Nerven aus Stahl verlangt
Trotz des späteren Perspektivenwechsels liegt der Fokus von ANIMALS auf Brahim – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die dynamische Kamera verfolgt den jungen Mann auf Schritt und Tritt, blickt ihm über die Schulter und kommt dabei minutenlang ohne Schnitt aus. Der teilweise oder vollständige Verzicht auf Szenenschnitte ist in der Filmwelt häufig nur eine technische Spielerei und nicht viel mehr als ein inszenatorisches mit den Muskeln spielen. Bei Nabil Ben Yadir hingegen, ist es Teil eines durchdachten Plans. Dieser sieht es nicht nur vor eine unmittelbare Nähe zu vermitteln, sondern gleichzeitig auch eine Sogwirkung zu erzeugen, die mit einer kribbelnden Unruhe und Anspannung seitens des Publikums einhergeht. Sein Plan geht auf! Das außergewöhnliche 4:3 Format, welches ANIMALS ein beengendes, ungemütliches Gefühl verleiht, visualisiert zudem die Ausweglosigkeit der Situation, in der sich Brahim befindet und steht sinnbildlich für das Verstecken seiner sexuellen Orientierung und später dann auch für die lebensgefährliche Situation, in welcher er gefangen ist. Kurzum, die Kameraarbeit ist eine Wucht!
Wer sich bereits mit der noch recht überschaulichen Filmografie von Josh und Benny Safdie – besser bekannt als die Safdie Brüder (UNCUT GEMS, GOOD TIME) – vertraut gemacht hat, kann sich in etwa vorstellen, welche Strapazen für das Nervenkostüm Nabil Ben Yadir mit seinem Film für die Zuschauer*innen bereithält. Der Thriller ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle – nur für Freude und Hoffnung ist auf diesem Trip kein Platz. Stattdessen durchleben wir ein eineinhalbstündiges Erlebnis voller Wut, Unwohlsein, Hilfslosigkeit und Schockstarre. Dies beginnt bereits in Brahims Elternhaus. Wer weiß alles von seiner Homosexualität? Was ist mit Thomas geschehen? Und wann kommt die Wahrheit über seine Sexualität ans Licht? Die stetige Anspannung überträgt sich eins zu eins auf das Publikum, das sich so fühlt als könne es jeden Moment selbst bei etwas vermeintlich Unrechtem ertappt werden. Auch wenn Brahim später dem wahren Schrecken des Abends immer näherkommt, gönnt ANIMALS seinen Zuschauer*innen keine Pause – nicht einmal als inmitten seiner noch jungen Tour de Force die Zeit für wenige Minuten still zu stehen scheint und die Kamera lange Zeit auf seiner gefühlsstarken Mimik verweilt. Was bleibt ist der eigene pochende Herzschlag, die Wut tief in den Eingeweiden und der Atem, der einem selbst viel zu laut erscheint.
Die Entstehung eines Monsters
Wenn das 4:3 Format zugunsten des länglichen, nochmal deutlich schmaleren Hochformats eines Smartphones weicht, finden ANIMALS seinen sadistischen Höhepunkt. Mit der rund 15-minütigen Szene mutet Nabil Ben Yadir den Zuschauer*innen eine an die Nieren gehende Tortur an. Was die Gewalt jedoch erst so erschütternd macht, sind nicht etwa die expliziten Bilder, sondern die sadistische Freude und das kindliche Gelächter der Täter, die sich an ihren Gräueltaten laben. Ein intensives Erlebnis, das in all seiner Härte trotzdem qualitativ hinter dem rastlosen ersten Akt bleibt. Der Schockwirkung tut dies aber keinen Abbruch. Wenn der junge Belgier die Ereignisse für den Schlussteil dann plötzlich spiegelt und die Auswirkung der Tat unter die Lupe nimmt, gibt er seinem Publikum mit dem Abflachen der Spannungskurve auch endlich die Möglichkeit langsam wieder herunterzufahren. Das Pochen in den Venen lässt nach, der Puls gleicht sich langsam dem Normalzustand an und das Stresslevel flacht deutlich ab – das Gefühl von Betroffenheit dafür hält noch lange Zeit nach dem Abspann an.
Fazit
Hinter jedem Monster steckt auch eine menschliche Geschichte. In seinem nervenaufreibenden Meisterwerk ANIMALS beschränkt sich der belgische Regisseur Nabil Ben Yadir nicht nur auf die Nacherzählung eines grausamen Verbrechens, sondern interessiert sich darüber hinaus auch für die Ursachen und die Folgen einer solchen Tat. Basierend auf dem 2012 begangenen homophob motivierten Mord strickt er eine schockierenden wie auch erschreckend authentischen Mix aus Thriller und Drama, der das Publikum mit seinen brillant fotografierten beklemmenden Bildern wie in einen Sog hineinzieht. Ein schweißtreibendes, rastloses Erlebnis, das unter die Haut geht!
Originaltitel | Animals |
Kinostart | 23.06.2022 |
Länge | ca. 91 Minuten |
Produktionsland | Belgien |
Genre | Krimi | Drama | Thriller |
Verleih | Drop Out Cinema |
FSK |
Regie | Nabil Ben Yadir |
Drehbuch | Nabil Ben Yadir | Antoine Cuypers |
Produzierende | Nabil Ben Yadir | Jean-Pierre Dardenne | Benoit Roland | Marie Savare | Delphine Tomson | Kobe Van Steenberghe | Hendrik Verthé | Fred Vrancken |
Kamera | Frank van den Eeden |
Schnitt | Dieter Diependaele |
Besetzung | Rolle |
Soufiane Chilah | Brahim |
Gianni Guettaf | Loïc |
Vincent Overath | Geoffroy |
Lionel Maisin | Christophe |
Serkan Sancak | Milos |
Anne-Marie Loop | Brahims Mutter |
Amid Chakir | Brahims Vater |
Salim Talbi | Mehdi |
Mounya Boudiaf | Monia |
Sonia Hardoub | Saliha |
Raphaël Lamaassab | Yassine |
Camille Freychet | junges Mädchen |
Thierry Hellin | Loïcs Vater |
Madeleine Baudot | Melissa |
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