Review
RED ROOMS wurde im Rahmen der Fantasy Filmfest White Nights gezeigt und präsentiert sich auf dem ersten Blick als Kammerspiel mit Fokus auf die Gerichtsverhandlung, entpuppt sich aber dabei schnell als sozialkritisches Drama mit Fokus auf Juliette Gariépy und Laurie Babin, ohne die Gerichtsverhandlung aus den Augen zu verlieren. Der Regisseur Pascal Plante bietet ein gesellschaftskritisches Stück, bei dem das Publikum nicht nur zum Nachdenken animiert wird, sondern sich durch die aufgegriffene Kritik selbst reflektiert.
Die Kamera als Stilmittel
Der Kameramann Vincent Biron hat in RED ROOMS eine hervorragende Arbeit geleistet. Die Kamera spielt förmlich mit dem Publikum. Mal zieht diese einen in das Geschehen rein, sodass man sich wie Teil der Handlung sowie als Gast in der Gerichtsverhandlung fühlt. Dies wird durch Longtakes garantieren, die für einen Nahbarkeit sorgen, die die Verhandlung mit dem schweren Thema nochmal näherbringt. Gleichzeitig gibt es dann die Momente, in der die Kamera aus dem Geschehen herausfährt und die Umgebung beobachtet. Sie zeigt Gesichter sowie Reaktionen ganz genau, sodass die Charaktere analysiert werden können.
Dabei bleibt die Kamera kühl, sie nimmt keine Seite ein und versucht auch nicht die Zusehenden in eine bestimmte Richtung zu drängen. Die Einstellungen sind Bedacht gewählt, Schnitte sind gezielt gesetzt. RED ROOMS gibt einem selbst die Gelegenheit sich für die Schuld oder Unschuld von Maxwell McCabe-Lokos zu entscheiden. Es erfolgt keine Wertung und auch der Cast ist so ausgewogen erzählt, dass die eine Seite ihre Argumente und Beweise manipulierend darlegt, die andere Seite aber wieder zum Nachdenken und einer genaueren Betrachtung anregt.
Aus zwei wird eins
Die entstehende Freundschaft zwischen Juliette Gariépy und Laurie Babin symbolisiert den Machtkampf der Argumente noch einmal deutlich. Sie kommen sich nah und trauen sich umso reger, ihre Sichtweise zu schildern und tief in das Detail zu gehen. Dabei gewinnt keine Seite die Oberhand. RED ROOMS gibt beiden genug Raum und vor allem auch Gesprächsstoff abseits des schwerwiegenden Gerichtsverfahrens, um dem Publikum eine Verschnaufpause zu geben, bevor die neuen Freundinnen sich in die nächste Diskussion stürzen.
Gerade Juliette Gariépy kann in der Handlung von RED ROOMS überzeugen. Sie versucht sich nichts anmerken oder sich aus der Fassung bringen zu lassen. Sie will immer das Gefühl geben, dass sie die Oberhand hat. Dabei ist sie faszinierend, da Zuschauende sich stetig fragen, ob Juliette Gariépy diesen sympathisch sein kann. Denn einerseits ist sie edgy, überschreitet Grenzen und verrückt drauf, versucht aber andererseits über das Dark Web an Beweise zu kommen, die die Schuld von Maxwell McCabe-Lokos beweisen und den Familien der toten Kinder Gerechtigkeit verschaffen würden. Sie ist ein Mysterium, welches das Publikum interessiert und dieses mit ihren Geheimnissen sowie dem Spiel zwischen Verboten und moralisch korrekt in den Bann zieht.
Gleichzeitig schafft RED ROOMS es, ihre doch erst losgelöst wirkende Handlung mit der des Gerichtsdramas geschickt zu verknüpfen. Immer mehr Bausteine werden platziert, die teils wie ein wuchtiger Schlag in die Magengrube treffen und auch sie fragwürdig dastehen lassen, aber dafür sorgen, dass das große Ganze und ihre Ziele sowie Intentionen erkannt werden können. Dabei legt der Film eine Fährte für das Publikum und regt zum Mitdenken an. Keine schlecht zünden wollenden Twists oder plötzlich sowie nicht erwartbare Enthüllungen, sondern eine schaurige Schnitzeljagd.
Spiegel der Gesellschaft
Das Thema der Gerichtsverhandlung von RED ROOMS ist mit sexuellem Missbrauch sowie Folter und Hinrichtung definitiv ein schweres Thema, gibt den Rezipienten von der Art der Inszenierung aber nicht das Gefühl von plumpen Filmpreis-Bait oder Ausnutzen des Themas für eine schnelle Filmstory. Der Film präsentiert die Gerichtsverhandlung einerseits als Kammerspiel und andererseits als ein Spiegel der Gesellschaft, wodurch der Film beim Publikum dafür sorgt, dass dieses sich selbst reflektiert und die eigene Meinung zum Mörder versucht mit Gedanken zu untermauern.
Das liegt unter anderem an der überzeugenden Arbeit von Natalie Tannous als Staatsanwaltschaft und Anklage. Mit ihren Argumenten emotionalisiert sie die Zusehenden so sehr, dass diese selbst merken, wie schnell man sich von Emotionen wie Wut, Trauer und Hass mitreißen lassen kann. Das führt im Publikum, aber auch in RED ROOMS dazu, dass demokratische Schutzmaßnahmen wie die Unschuldsvermutung, für die Laurie Babin so pocht, ignoriert werden und schnell das Verlangen der Lynchjustiz die Oberhand gewinnt. Durch diesen Spiegel der Gesellschaft und die Tatsache, dass diese Forderungen in Social Media mittlerweile Alltag sind, bleibt der Film noch lange im Gedächtnis.
Show don’t tell
Das im Gedächtnis bleiben erreicht RED ROOMS mit einem besonders erschreckenden Trick. Da die Tat des Mörders in den namensgebenden Red Rooms gestreamt wurde, gibt es auch Beweisvideos, die während der Verhandlung gezeigt werden. Dabei geht der Film jedoch nicht plump oder ekelerregend geschmacklos vor und zeigt die Videos. Vielmehr wagt der Regisseur Pascal Plante die kreative Idee, die Reaktionen der anwesenden Leute auf die Beweisfotos und -videos zu zeigen. Das wirkt noch viel erschreckender, da die Geräusche aus dem Video und das Entsetzen der Angehörigen zu sehen ist.
Die eigene Fantasie sorgt für grauenvolle sowie einprägsame Bilder, die dafür sorgen, dass die Zusehenden begeistert, erschaudert und angewidert zugleich sind. Es entsteht der Drang, am liebsten weg zu sehen, wird aber von der Neugier zum Grauen übertroffen, wodurch RED ROOMS für echte Horrorelemente, Gänsehaut und Übelkeit dank der Vorstellung über das Verbrechen sorgt. Diese Schockerszenen sind eine der größten Stärken des Films, beinhalten aber auch eine Schwäche. Ab einem gewissen Punkt beenden diese die Schnitzeljagd und enthüllen den Täter. Das ist einerseits enttäuschend, liegt aber daran, dass Pascal Plante im Gegensatz zu ANATOMIE EINES FALLS keine Spekulationen übrig lassen und bei so einem harten Thema einen linearen Schlussstrich ziehe wollte.
Aufräumen von Klischees bezogen auf Darknet und RED ROOMS
Jede Person, die einen Hollywoodfilm oder Blockbuster über Hacker gesehen hat, kennt die peinliche sowie falsche Darstellung von Hackern, Dark Web und Programmieren. Hellgrüne Nullen und Einsen huschen über einen dunkelgrünen Hintergrund oder Popups eines futuristischen sowie unrealistischen Betriebssystems ploppen auf. Diesen Fehltritt erlaubt sich RED ROOMS nicht. Wenn ein Monitor zu sehen ist, zeigt dieser ein Betriebssystem, welches wahrscheinlich eine der vielen Linux Varianten ist. Und auch über das Darknet wird kein typisches Hollywoodklischee bezüglich des Wochenmarkts der Kriminalität verbreitet. Vielmehr wird sich darauf fokussiert, dass das Dark Web auch Schutz für Journalisten und Whistleblower wie Julian Assange und Privatsphäre bietet. Zwar gibt es im Dark Web auch Kriminalität, aber der Film selbst sagt hier treffen, dass es diese überall gibt und Regierungen dieses Argument nur nutzen, um den sicheren Hafen für Whistleblower zu bekämpfen.
Fazit
RED ROOMS bietet eine spannende sowie erdrückende Handlung, eine kühle, präzise Kamerafahrt, faszinierende Charaktere und eine fesselnde Inszenierung, die dem Publikum gerne den Spiegel der Gesellschaft vorhält und für fast schon philosophische Gedankengänge und Hinterfragen von Dingen wie der Vorverurteilung sorgt. Geschickt schafft Pascal Plante eine Situation, in der sich die Zusehenden unbehaglich und gleichzeitig auch wohl fühlen und die Zeit rasant, wie im Flug vergeht. Wer mit Gerichtsdramen wie ANATOMIE EINES FALLS Spaß hat, sollte auch bei RED ROOMS trotz unterschiedlicher Herangehensweise der Filme einen Blick wagen.
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Originaltitel | Les chambres rouges |
Kinostart | 11.8.2023 |
Länge: | 118 minuten |
Produktionsland | Canada |
Genre: | Drama | Krimi | Thriller |
Regie | Pascal Plante |
Executive Producer | Tim Ringuette |
Producer | Dominique Dussault |
Kamera | Vincent Biron |
Musik | Dominique Plante |
Cast | Juliette Gariépy, Laurie Babin, Élisabeth Locas, Maxwell McCabe-Lokos, Natalie Tannous, Pierre Chagnon, Guy Thauvette, Charlotte Aubin, Sébastien Beaulac, Frédérick de Grandpré, Rémy Deloume, Stanley Hilaire, Vitali Makarov, Rebecca Makonnen, Maxim Martin, Peter Meltev, Marie-Gabrielle Ménard, Richard Turcotte, Nadia Verrucci |
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