„Hinter denselben Worten können unterschiedliche Geschichten stehen – aber man kann sich trotzdem verstehen“, sagt Regisseurin und Drehbuchautorin Ina Weisse über die Verbindung ihrer beiden ungleichen weiblichen Hauptfiguren in ihrem neuen Film ZIKADEN.
– Transkribiert und verschriftlicht von Toni Schindele –
Ina Weisse ist vieles: Schauspielerin, Regisseurin, Drehbuchautorin, Denkerin. Ihre Laufbahn begann in den 1990er-Jahren vor der Kamera, doch längst hat sie sich auch als feinfühlige Filmemacherin einen Namen gemacht. Geboren 1968 in West-Berlin, aufgewachsen in einem bildungsbürgerlichen Elternhaus, wurde sie früh musikalisch geprägt, spielte Violine, besuchte eine Waldorfschule und studierte später Philosophie – in Heidelberg und an der Pariser Sorbonne. Nach der renommierten Otto-Falckenberg-Schule folgte ein Regiestudium an der Hamburg Media School.
Mit Filmen wie DER ARCHITEKT, DAS VORSPIEL oder ihrer Dokumentation über die Neue Nationalgalerie hat Ina Weisse als vielseitige Filmemacherin auf sich aufmerksam gemacht. Ihr neuer Film ZIKADEN, bei dem sie sowohl Regie führte als auch das Drehbuch schrieb, feierte seine Weltpremiere bei der 75. Berlinale und startet am 19. Juni 2025 in den Kinos. Vor dem Kinostart hat Lida Bach aus unserer Redaktion Ina Weisse zum Interview getroffen – und mit ihr über ihren neuen Film, über Architektur und darüber gesprochen, warum ZIKADEN von Zwischenräumen und Andeutungen lebt und den Zuschauer*innen bewusst die Möglichkeit lässt, selbst Verbindungen herzustellen und Gedanken zu Ende zu denken.
Lida Bach: In ZIKADEN greifst du ähnliche Themen wie in DAS VORSPIEL auf: Zwei Frauen im Mittelpunkt, gespielt von Nina Hoss und Saskia Rosendahl, soziale Unterschiede, eine fragile Beziehung. Wie kam es zu dieser thematischen Wiederaufnahme?
Ina Weisse: Mich hat von Anfang an die Frage beschäftigt, ob zwei sehr unterschiedliche Frauen aus verschiedenen Welten überhaupt zueinander finden können – ob eine Freundschaft zwischen ihnen möglich ist. Das war der Ausgangspunkt. Und dann geht es darum, wie ihre Leben verlaufen: Anja, gespielt von Saskia Rosendahl, ist alleinerziehend, kämpft um ihr Kind, hat mehrere Jobs und versucht, irgendwie zu überleben. Isabel, die Figur von Nina Hoss, steckt auch in Schwierigkeiten – sie muss sich um ihre Eltern kümmern, hat Konflikte mit ihrem Mann und hadert mit ihrem Beruf als Architektin, den sie gerade nicht ausübt.
Sie sollte im Büro ihres Vaters anfangen, doch der hatte genau zu dem Zeitpunkt einen Schlaganfall. Sie schiebt ihm die Schuld zu, sucht bei ihm nach einem Grund für ihre eigene Orientierungslosigkeit. Beide Frauen suchen ihren Platz in der Welt, sind unsicher, scheu, aber auch stolz. In genau diesem Moment treffen sie aufeinander – vielleicht wäre das früher oder später gar nicht möglich gewesen. Aber jetzt entsteht zwischen ihnen ein Raum, in dem ihre jeweiligen Schwierigkeiten für einen Moment keine Rolle mehr spielen.
Lida Bach: Der Film spielt überwiegend auf dem Land in Brandenburg. Denkst du, dass eine solche Begegnung zweier Menschen aus so unterschiedlichen sozialen Schichten nur dort möglich ist?
Ina Weisse: Nein, das gibt es auch in der Stadt – in Kreuzberg zum Beispiel, wo Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten zusammenleben. Ich wünsche mir nur, dass sie stärker in Verbindung treten. Und das ist ja das Schöne im Film: Zwischen den beiden ist Kommunikation möglich, auch wenn sie aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen kommen. Wenn man sich zuhört, kann Verständigung gelingen.
Lida Bach: Aber sprechen Isabel und Anja wirklich dieselbe Sprache – im Sinne von sozialer Prägung, Ausdruck und Selbstverständnis?
Ina Weisse: Nein, das glaube ich nicht. Sie haben eben gerade nicht dieselbe Sprache, nicht dieselben Codes. Und trotzdem ist Kommunikation möglich – gerade durch Zuhören. Die beiden sind sehr sensibel, sie nehmen einander wahr. Hinter denselben Worten können unterschiedliche Geschichten stehen – aber man kann sich trotzdem verstehen.
Lida Bach: Ein zentraler Aspekt ist auch die Eltern-Kind-Beziehung. Anja ist Mutter, Isabel Tochter eines dominanten Vaters. Beide müssen Verantwortung für andere übernehmen. Inwiefern hat dich diese Dynamik beim Schreiben geprägt?
Ina Weisse: Das hat mich sehr interessiert, gerade weil es um verschiedene Generationen geht. Die eine kümmert sich um ihr Kind, die andere um ihre Eltern – beide sind ständig für andere da und vergessen sich selbst dabei. Und dann gibt es noch das gesellschaftliche Thema: Menschen werden immer älter, die Pflege wird immer aufwendiger. Wie geht man damit menschlich um? Das betrifft viele, auch mich selbst und mein Umfeld.
Lida Bach: Kennst du diese Verantwortung persönlich – das Kümmern um alternde Eltern, mit all den emotionalen, organisatorischen und finanziellen Belastungen?
Ina Weisse: Ja, absolut. Ich kenne das gut. Es betrifft meist Frauen – aber ich sehe auch Männer, die sich engagiert um ihre Eltern kümmern. Trotzdem sind es in der Breite noch immer hauptsächlich Frauen, das ist offensichtlich.
Der Video zum Interview:
Lida Bach: Der Film spielt mit Kontrasten: Isabels Wohnung ist lichtdurchflutet, offen, architektonisch geprägt vom Bauhaus-Stil. Anjas Wohnung ist klein, eng, fast klaustrophobisch. Inwiefern hast du diese Räume bewusst gestaltet?
Ina Weisse: Das war uns sehr wichtig. Manche Räume haben wir gefunden, andere weiterentwickelt. Es ist eine Mischung. Aber dieser Kontrast zwischen den beiden Lebenswelten war zentral. Und natürlich beeinflussen Räume das Spiel und das Erzählen.
Lida Bach: Hast du eine persönliche Verbindung zur Architektur oder zum Bauhaus-Stil?
Ina Weisse: Ja, mein Vater ist Architekt. Ich habe mit ihm sogar einen Film über Ludwig Mies van der Rohe gemacht – er hat damals im Büro von Mies gearbeitet, als die Nationalgalerie entstand. Architektur war also immer präsent. Als Kinder hat er uns gefragt, was wir auf Spielplätzen mögen, wenn er Kitas geplant hat. Ich habe früh erlebt, wie aus einer Idee ein Gebäude wird. Dieser Prozess fasziniert mich bis heute.
Der offizielle Trailer zu ZIKADEN:
Lida Bach: Warum hast du den Film in Brandenburg angesiedelt?
Ina Weisse: Ich kenne die Gegend gut, sie ist mir vertraut. Wir wollten unbedingt im Sommer drehen, wegen der Hitze, der Atmosphäre. Die Landschaft hat fast eine eigene Funktion. Auch der Ton spielte eine große Rolle – das Summen, die Zikaden, die Geräusche. Selbst in dramatischen Momenten hört man draußen Kinder, Leben, Geräusche. Diese Kontraste waren mir wichtig.
Lida Bach: Die Zikaden wirken fast wie ein Symbol – etwas Dauerhaftes im Hintergrund, das präsent ist, ohne immer bewusst wahrgenommen zu werden. Ähnlich wie die untergründige Spannung zwischen den Frauen. Es gibt eine fast romantische, vielleicht libidinöse Dynamik, die aber nicht explizit wird. Wolltest du das bewusst offenlassen?
Ina Weisse: Ja, genau. Ich will das nicht erklären. Die Geschichte lebt von Zwischenräumen, Andeutungen. Ich finde es spannend, wenn man als Zuschauer*in selbst etwas zusammensetzt, zu Ende denken kann. Wie beim Lesen eines Buches. Auch bei dieser Beziehung möchte ich nichts festlegen. Die Schauspieler*innen spielen das wunderbar – mit Blicken, ohne viele Worte. Ich bin gespannt, wie das Publikum das wahrnimmt. Die Premiere war gerade erst.
Lida Bach: Wie hast du die Reaktionen bei der Premiere erlebt?
Ina Weisse: Ich war bis zur letzten Woche noch tief in der Arbeit – Tonmischung, Untertitel, letzte Schnitte. Erst nach und nach konnte ich mich lösen und wahrnehmen, wie der Film ankommt. Es war schön zu sehen, dass auch die heiteren Momente angekommen sind. Die Reaktionen waren sehr positiv – das hat mich gefreut.
Lida Bach: Du arbeitest zum zweiten Mal mit Nina Hoss. Wann wusstest du, dass sie Isabel spielen soll, und wie gestaltet sich eure Zusammenarbeit?
Ina Weisse: Das Projekt entstand aus Fragmenten. Ich hatte zunächst mit dem Kind, Greta , gedreht, sie lange mit der Kamera begleitet. Dann suchte ich eine Mutter – das wurde Saskia Rosendahl. Und irgendwann dachte ich, ich möchte einen Film über die Freundschaft zwischen Saskia und Nina Hoss machen. Die Arbeit mit Nina bei DAS VORSPIEL war sehr schön, wir sind uns nah. Ich habe die Rolle für sie geschrieben. Auch mit Judith Kaufmann, unserer Kamerafrau, habe ich schon mehrfach gearbeitet. Diese Vertrautheit schafft einen Raum, in dem man sich nicht viel erklären muss. Ich versuche immer, den Schauspieler*innen ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich wohl und frei fühlen. Ich mache keine klassischen Castings – ich verbringe Zeit mit den Menschen. So entsteht ein gemeinsamer Ton. Ein Filmteam ist wie ein Körper – wenn eine Person nicht passt, merkt man das sofort. Es muss eine Gemeinschaft sein.
Lida Bach: Die Musik im Film wirkt sehr gezielt eingesetzt. Wie war der Entstehungsprozess?
Ina Weisse: Beim letzten Film hatte ich die Musikstücke vorher ausgewählt, hier entstand alles im Schnitt mit Hans-Jörg Weissbrich. Die Komponistin Anette Focks hat die Musik geschrieben – und das war ein längerer Prozess. Je weniger Musik man hat, desto wichtiger wird jedes Stück. Es durfte nichts doppeln, nicht verdecken, was im Film offen bleibt. Deshalb haben wir lange gesucht, bis es wirklich stimmte. Am Ende bin ich sehr froh – auch wenn der Druck groß war, rechtzeitig zur Berlinale fertig zu werden.
Lida Bach: Und was ist dein nächstes Projekt?
Ina Weisse: Das Langzeitprojekt mit dem Kind – und auch Nina Hoss und Saskia Rosendahl werden wieder mit dabei sein.
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