Rezension
Die Polizistin Gladys Moss (Anjana Vasan), die vor Lebensfreude sprühende Rose Gooding (Jessie Buckley) und die alte Jungfer Edith Swan (Olivia Coleman) haben nicht wirklich viel gemeinsam. In einer Sache jedoch sind sich die drei Frauen sehr ähnlich: Jede von ihnen bewegt sich in einer frauenfeindlichen Gesellschaft der 1920er Jahre und versucht aus dieser auszubrechen.
Das kleine Küstenstädtchen Littlehampton in West Sussex in Südostengland wird in KLEINE SCHMUTZIGE BRIEFE (engl. LITTLE WICKED LETTERS) zum Schauplatz eines Skandals um Schmähbriefchen. Klingt zunächst nicht wirklich spannend? Ist es aber: Die Briefe waren für die damalige Zeit ziemlich obszön und beleidigten die Frauen in Littlehampton aufs Äußerste. Erst war nur eine Frau die Empfängerin, und dann gefühlt die halbe Stadt. Heute würden wir es womöglich mit Hate Speech auf Social Media gleichsetzen.
Ein Skandal, den es wirklich gegeben hat
Das Leben schreibt bekanntlich die besten Drehbücher. So auch bei KLEINE SCHMUTZIGE BRIEFE. Die Geschichte hat sich wirklich in Littlehampton abgespielt. Vor gut 100 Jahren wurden anonyme beleidigende Nachrichten an ein angesehenes Mitglied der Community geschickt. Der Fall der Littlehampton-Briefe wurde 1920 sogar zum Gegenstand einer Debatte im britischen House of Commons.
Drehbuchautor und Komiker Jonny Sweet nutzte diesen Skandal als Inspiration zu KLEINE SCHMUTZIGE BRIEFE. Im Mittelpunkt der Handlung stehen Rose und Edith – zwei Nachbarinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Rose ist lebenslustig, hat eine kleine Tochter, nimmt kein Blatt vor den Mund und ist ihrer Zeit voraus. Edith hingegen wohnt mit über 40 noch bei ihren Eltern, steht unter der Fuchtel ihres jähzornigen Vaters Edward (Timothy Spall) und führt ein gehorsames und gottesfürchtiges Leben. Beide sind der Kontrast pur und sich doch so ähnlich. Rose verkörpert das, was Edith gerne hätte: augenscheinliche Selbstbestimmung. Ediths braves und sehr eintöniges Leben nimmt ein jähes Ende, nachdem sie mehrere obszöne Briefe zugeschickt bekommt, in denen sie mit vulgären Beleidigungen übersät wird. Der oder die Verfasser:in ist zunächst unbekannt. Doch für sie war klar, wer die Schuldige sein muss: Rose! Einst waren Rose und Edith Freundinnen. Doch die beiden zerstritten sich – zu diesem Zeitpunkt fingen die Briefe an. Rose wurde angeklagt, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Das Sorgerecht für ihre kleine Tochter stand damit auf der Kippe. Lediglich die Polizistin Gladys Moss hatte Zweifel an der Schuld von Rose. Sie sorgte dafür, dass der Fall wieder aufgenommen wird und die Suche nach dem wahren Absender weitergeht.
Drei starke Protagonistinnen befreien sich
Man könnte meinen, dass der Fokus der Handlung auf der Lösung des Kriminalfalls liegt. Doch es geht bei KLEINE SCHMUTZIGE BRIEFE um viel mehr als das. Es geht um ein Gesellschaftssystem, welches Frauen kein Mitspracherecht in ihrem eigenen Leben lässt und sie unterdrückt. Drei Frauen versuchen aus diesem Gefängnis auszubrechen. Dabei will der Film nicht den pädagogischen Zeigefinger erheben, sondern vielmehr auf eine unterhaltsame und dennoch einprägsame Art und Weise auf die großen Missstände aufmerksam machen – die aktueller denn je sind.
Rose kämpft für das Sorgerecht ihrer Tochter. Edith will sich von ihrem tyrannischen Vater lösen und Gladys muss sich auf dem Polizeirevier mit Witz und Charme gegen ihre Kollegen behaupten, um in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Drei starke Frauen. Drei unterschiedliche Antriebe. Ein Ziel. Mit viel Humor zeichnet der Film ein vielschichtiges und zeitloses Porträt von Frauen in einer männerdominierenden und patriarchalischen Gesellschaft.
Doch was wäre ein sehr gutes Drehbuch ohne sehr gute Schauspieler und Schauspielerinnen, die den Figuren Leben einhauchen? Die Chemie zwischen Olivia Coleman (THE FAVOURITE), Jessie Buckley (DIE FRAU IM DUNKELN) und Anjana Vasan (KILLING EVE) ist harmonisch wie energiegeladen. Die Frauen verkörpern ihre Rollen mit einer gewissen Leichtigkeit und Überspitzung, wirken aber zu keinem Zeitpunkt lächerlich. Begleitet wird der Hauptcast von einem grandiosen Nebencast – allen voran Timothy Spall (HARRY POTTER) als wunderbar abscheulicher Vater von Edith.
Fazit
Hassrede, Vorverurteilung, Mobbing und Cancel-Culture werden in ein ‘hübsches’ historisches Gewand gesteckt und mehr oder weniger an den Pranger gestellt. Geht es in der ersten Hälfte von KLEINE SCHMUTZIGE BRIEFE eher darum den oder die Verfasser:in der Schmähbriefe zu finden, entwickelt sich die Handlung zu einer ausdrucksstarken Gesellschaftskritik, bei der die drei Frauen versuchen sich aus dem Korsett der Misogynie – also dem frauenfeindlichen System – heraus zu emanzipieren. Jede auf ihre eigene Art und Weise. Jede mit ihrem eigenen Antrieb.
Der Film KLEINE SCHMUTZIGE BRIEFE brilliert auf allen Linien: Storytelling, Schauspiel, Kostüm, Szenenbild, Kamera. Eine unterhaltsame Tragikomödie mit wunderbarer Fallhöhe und einem Hauch Feminismus sowie drei großartigen und herausragenden Frauenfiguren. Ein Punkt gibt es aber dennoch, der am Ende vermerkt werden sollte: Damit die Gags und Beschimpfungen in den Briefen ihre Wirkung zu 100 Prozent entfalten können, sollte man sich den Film in der Originalsprache anschauen.
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Originaltitel | Wicked Little Letters |
Kinostart | 23.2.2024 |
Länge: | 100 minuten |
Produktionsland | United Kingdom |
Genre: | Komödie | Drama | Mystery |
Regie | Thea Sharrock |
Executive Producer | Farhana Bhula | Tom Carver | Ron Halpern | Ben Knight | Diarmuid McKeown | Joe Naftalin | Daniel Battsek | Simon Bird | Ollie Madden | Anna Marsh | Jonny Sweet |
Producer | Anna Hintzen | Jo Wallett | Olivia Colman | Ed Sinclair | Graham Broadbent | Peter Czernin |
Kamera | Ben Davis |
Visual Effects | Ciaran Crowley |
Musik | Isobel Waller-Bridge |
Cast | Olivia Colman, Jessie Buckley, Anjana Vasan, Timothy Spall, Gemma Jones, Malachi Kirby, Alisha Weir, Joanna Scanlan, Eileen Atkins, Lolly Adefope, Hugh Skinner, Paul Chahidi, Krishni Patel, Jonny Sweet, Tim Key, Jason Watkins, Richard Goulding, Cyril Nri, Tim McMullan, Edward Judge |
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