Der Beruf des professionellen Schneiders stirbt in diesen Tagen zunehmend aus. Kleidung kommt immer mehr von der Stange, und alles, was kaputt ist, wird gleich ersetzt gegen etwas Neues. Die Reparatur oder gar das Maßschneidern von Kleidung verliert an Bedeutung, und ein großartiges und eigentlich wichtiges Handwerk versinkt in der Bedeutungslosigkeit. Bereits in einer Umfrage Ende 2006 gaben rund 95% der befragten Menschen an, dass sie ihre Kleidung selten oder gar nie beim Schneider oder Konfektionär kaufen.[1] Laut dem Hamburger Abendblatt ist es sogar so, dass 18 Prozent aller Kleidungsstücke nur zweimal überhaupt getragen werden, bevor wir sie ausrangieren und uns neue Mode zulegen. Dass sind erschreckende Zahlen denn wie das Hamburger Abendblatt in einem Interview mit Textil-Expertin Kirsten Brodde ebenfalls vermerkt, ist „Mode […] zum Wegwerfartikel verkommen“.[2]
Dabei ist die Schneiderei eine hohe Kunst, wie wir in THE OUTFIT eindrucksvoll lernen dürfen. Regiedebütant und Drehbuchautor Graham Moore, der zuvor gleich mit seinem ersten Drehbuch zu THE IMITATION GAME – EIN STRENG GEHEIMES LEBEN einen Oscar® absahnen konnte, widmet sich nun eben jener vergessenen Profession und begibt sich dabei erneut ins mittlere 20. Jahrhundert. Seinen Film stellte er erstmalig im Rahmen der diesjährigen 72. Berlinale vor, wo das Werk in der Sektion Berlinale Special Gala in Anwesenheit des Filmteams vom Publikum und der Kritik lobend aufgenommen wurde. Mit einem Blick auf das restliche Filmteam ist dies auch kaum verwunderlich, denn Ben Browning bewies sein Talent als Filmproduzent bereits beim Vorjahreserfolg PROMISING YOUNG WOMAN sowie beim spannenden Thriller DIE ERFINDUNG DER WAHRHEIT mit Mark Strong und Jessica Chastain. Mit Mark Rylance, Zoey Deutch und Dylan O’Brien einen Cast, der immer wieder für positive Überraschungen zu haben ist.
Darum geht es
Wenn jemand in Chicago einen perfekt sitzenden Anzug benötigt, gibt es im Grunde nur eine Adresse: Leonards kleine eigene Schneiderei, in der nur der Altmeister seines Handwerks tätig ist und im Vorzimmer eine junge, charmante Dame sich um die Entgegennahme der Aufträge kümmert. Leonard ist durch und durch Perfektionist und hat sein ganzes Leben seinen Fertigkeiten gewidmet. Sein Wissen und sein Können werden von jeglicher Klientel geschätzt. Doch seine Räumlichkeiten bieten nicht nur Herberge für die erlesensten Stoffe, sondern werden auch von den lokalen Gangstern für die eigenen Machenschaften missbraucht. Diskretion wird bei Leonard jedoch großgeschrieben, und so entsteht eine stillschweigende Übereinkunft, die beinhaltet, dass er von nichts weiß, was in seiner Schneiderei geschieht und dafür in jeglicher Hinsicht verschont wird und sein Geschäft ungehindert führen kann. Doch im Jahr 1956 soll eine Nacht sein ganzes Leben verändern.
Rezension
Inspiration für seine Hauptfigur und Geschichte holte sich Regisseur Graham Moore bei seinem Großvater, den er als äußerst anständig, zuvorkommend, hilfsbereit und lehrreich beschreibt. Doch er überträgt nicht nur die lobenswerten Eigenschaften auf seinen Protagonisten, sondern auch seine geschäftlichen Verbandlungen, auch wenn die Grundidee einen Film über einen vornehmen Schneider zu machen gegeben war, bevor die Parallelen zur eigenen Familienhistorie verwoben wurden. Um der gesamten Story noch etwas mehr Bedeutung zu verleihen, orientiert sich THE OUTFIT an einem kleinen, aber nicht weniger bedeutenden Ereignis, welches nach Angaben von Graham Moore im Jahr 1956 geschah und welches uns im bedeutsamen Finale dieses Films als Teil der Auflösung präsentiert wird.
THE OUTFIT ist die KINGSMAN-Vorgeschichte, die wir haben wollten, aber nie bekamen. Ein absolut überragender Mark Rylance, der seit 2015 jährlich sich in seinen Rollen übertrifft, doch zumeist nur als kleine Nebenfigur auftritt, darf nun als Protagonist dieses Films all seine Fähigkeiten vorweisen und liefert mit Bravour ab. Seine gediegene und ehrenhafte Art strahlt eine unglaublich persönliche Wärme aus, die sofort die Sympathien des Publikums einfängt. Niemandem könnte man wohl besser die perfektionistische und präzise Arbeitsweise abkaufen als diesem Mann, der scheinbar verstanden hat, was es heißt, eine Lebensaufgabe zu finden. Der wortkarge Auftritt steht im Kontrast zu den vielen modernen Produktionen, die ihre eigene Story zu Tode quatschen, und gerade deswegen wird eine undefinierbare Atmosphäre erzeugt, die regelrecht erfüllt ist von einer Spannung, die sich Stück für Stück immer weiter auftürmt und dadurch jede folgende Situation noch brisanter wirken lässt.
Ein Thriller mit Stil
Zoey Deutch, die zuletzt bei ZOMBIELAND: DOPPELT HÄLT BESSER zu sehen war und sich bisher vor allem am Genre Komödie festgehalten hat, beweist nun, dass sie deutlich mehr kann als billige Gags aneinanderreihen. Auch wenn sie klar und deutlich im Schatten von Rylance verweilt und zusammen mit ihren Co-Stars wie Dylen O’Brien und Johnny Flynn eher mit kleinen Auftritten glänzt, sind diese doch auf den Punkt inszeniert und fügen sich hervorragend in das Gesamtwerk als kleines Puzzleteil ein.
Wir bekommen glücklicherweise einen Film, der über einen langen Zeitraum schafft, zu verbergen, wo die Reise hingehen soll. Tatsächlich wird gerade am Anfang geprägt von einem Kalenderspruch nach dem Anderen soviel erzählerische Kraft in den Aufbau des Protagonisten gelegt, dass das Publikum auf die Fährte eines sanften Dramas geführt wird, welches uns eine zutiefst persönliche Liebe zum Schneiderhandwerk offenbart und mit scharfen Bildern in die Obsession dieser Kunst einsaugt. In kleinen, bedachten Schritten, die teilweise sogar etwas zu vorsichtig gesetzt sein könnten und dadurch eine äußerst ruhiges und schleichendes Pacing erzeugen, wandelt sich dies in eine klassische Noir-Erzählung, die wie ein Zahnradgetriebe ein Ereignis nach dem anderen auslöst und die Figuren stets in eine neue, noch bedrohlichere Situation wirft. Mit kleinen Brotkrumen füttert Moore uns mit neuem Wissen und liefert uns so einen mitreißenden Thriller, wie man ihn liebt und schon lange nicht mehr gesehen hat.
Brillante One-Man-Show
Der Regisseur schafft es, dass Fans von Mafiosi-Storys voll auf ihre Kosten kommen und trotzdem auch Diejenigen abgeholt werden, die sich nicht so mit dieser Organisation filmisch anfreunden können. Teilweise werden hier sogar JOHN WICK ähnliche Verhältnisse eröffnet, die sich wohl auf einem sehr schmalen Grad zwischen Fiktion und Realität bewegen. Dementsprechend bietet insbesondere der Payoff einige feinsinnige Kampfsequenzen, die sich sehen lassen und nur noch getoppt werden von den unzähligen Wendungen, die zwar teilweise leider etwas zu früh angeteast wurden, aber dennoch die Erwartungen absolut erfüllen, die im Laufe des Films durch das Storytelling auf einen Maximalwert getrieben werden.
Zu guter Letzt eröffnet das Kammerspiel THE OUTFIT interessante Möglichkeiten für Debatten, die sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, ab wann eine Person sich der Mittäterschaft schuldig macht. Ist es ethisch vertretbar, wissentlich für und mit einem Gauner, Mörder oder anderweitigem Straftäter zusammenzuarbeiten, wenn dieser einem selbst doch niemals Leid in irgendeiner Form angetan hat? Wäre es nicht vielleicht sogar eine Form der Selbstjustiz, wenn wir ohne richterlichen Spruch die Zusammenarbeit mit einer Täterschaft als Begründung verweigern? Unscheinbar versucht Moore, eben jene Fragen zu etablieren und dem Publikum mit auf den Weg zu geben.
Fazit
Moore knüpft genau da an, wo er mit THE IMITATION GAME – EIN STRENG GEHEIMES LEBEN einst aufhörte und liefert uns einen nahezu perfekt austarierten Film, der ein breites Spektrum von Tonalitäten aufweist und sich dennoch sehr präzise auf seine Geschichte fokussiert. In seinem Debütfilm zieht Moore stets die richtigen Strippen und weiß die punktgenauen Bilder von Kameramann Dick Pope bestens in Szene zu setzen und selbst die innere Ruhe auszustrahlen, die sein Protagonist verkörpert und zuletzt auf das Publikum überträgt. Hier und da schleichen sich zwar einige ungenaue Kleinigkeiten ein, die hätten vermieden werden können, und zeitweise hätte das Tempo durchaus auch ein klein wenig mehr Dampf aufweisen dürfen, doch dabei handelt es sich um vernachlässigbare Marginalien. THE OUTFIT schafft dass, was THE BATMAN missen lässt und beweist, was Film Noir wirklich drauf haben kann.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Quellen
Mark Rylance hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der liebenswertesten Schauspieler überhaupt gemacht. Mit Nebenrollen in BRIDGE OF SPIES, READY PLAYER ONE und DON’T LOOK UP bewies er ein großartiges Gefühl für eine sanfte und ehrliche Figurenzeichnung. Er ist wie geschaffen für Rollen, die introvertiert angelegt sind, und eben jenes Talent darf er auch im Regiedebüt des Oscar®-Gewinners und Drehbuchautoren Graham Moore unter Beweis stellen. Dabei bedient sich der Film einerseits dem noch recht jungen Revenge-Thriller-Genre, welches bereits NOBODY und JOHN WICK uns fabelhaft präsentierten und bleibt gleichzeitig vollkommen bodenständig und hangelt sich entlang eines Zahnradmechanismus von Ereignissen, die sich Stück für Stück zu einem sehenswerten, gediegenen und doch mitreißenden Payoff aufstapeln. THE OUTFIT brilliert durch Eleganz, Stil und Präzision und bildet das ab, was THE KING’S MAN gerne gewesen wäre.
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The profession of professional tailoring is increasingly dying out these days. Clothes are more and more off-the-peg, and everything that is broken is immediately replaced by something new. Repairing or even tailoring clothes is losing importance, and a great and actually important craft is sinking into insignificance. Already in a survey at the end of 2006, about 95% of the people questioned said that they rarely or never buy their clothes from a tailor or ready-to-wear clothing store.[1] According to the Hamburger Abendblatt, it is even the case that 18% of all items of clothing are only worn twice at all before we discard them and buy new fashion. These are alarming figures because, as the Hamburger Abendblatt also notes in an interview with textile expert Kirsten Brodde, “fashion […] has degenerated into a disposable item”.[2] Yet tailoring is a high art.
Yet tailoring is a high art, as we are allowed to learn impressively in THE OUTFIT. Directorial debutant and screenwriter Graham Moore, who won an Oscar® with his first screenplay THE IMITATION GAME, now devotes himself to this forgotten profession and returns to the middle of the 20th century. He presented his film for the first time at this year’s 72nd Berlinale, where the work was received with praise by the audience and critics in the Berlinale Special Gala section in the presence of the film team. With a look at the rest of the film team, this is hardly surprising, as Ben Browning already proved his talent as a film producer with last year’s success PROMISING YOUNG WOMAN as well as the suspenseful thriller MISS SLOANE with Mark Strong and Jessica Chastain. With Mark Rylance, Zoey Deutch and Dylan O’Brien a cast that is always ready for positive surprises.
This is what it’s all about
When someone in Chicago needs a perfectly fitting suit, there’s basically only one place to go: Leonard’s own little tailor shop, where only the old master of his craft works and a charming young lady in the anteroom takes care of taking orders. Leonard is a perfectionist through and through and has dedicated his whole life to his skills. His knowledge and skills are appreciated by all clientele. However, his premises not only offer shelter to the most exquisite fabrics, but are also abused by the local gangsters for their own machinations. Discretion is a top priority for Leonard, however, and so a tacit agreement is reached whereby he knows nothing about what happens in his tailor shop and in return is spared in every respect and can run his business unhindered. But in 1956, one night is to change his whole life.
Review
Director Graham Moore drew inspiration for his main character and story from his grandfather, whom he describes as extremely decent, obliging, helpful and teachable. But he does not only transfer the praiseworthy qualities to his protagonist, but also his business connections, even though the basic idea of making a film about a distinguished tailor was given before the parallels to his own family history were interwoven. To give the whole story a little more meaning, THE OUTFIT is based on a small but no less significant event which, according to Graham Moore, happened in 1956 and which is presented to us in the momentous finale of this film as part of the denouement.
THE OUTFIT is the KINGSMAN prequel we wanted but never got. An absolutely outstanding Mark Rylance, who has excelled in his roles every year since 2015, but mostly appears as a minor supporting character, now gets to showcase all his skills as the protagonist of this film and delivers with flying colours. His dignified and honourable manner radiates an incredibly personal warmth that immediately captures the audience’s sympathies. There is no one better to buy the perfectionist and precise way of working than this man, who seems to have understood what it means to find a mission in life. The taciturn performance contrasts with many modern productions that talk their own story to death, and it is precisely for this reason that an indefinable atmosphere is created that is downright filled with a tension that keeps piling up bit by bit, making each subsequent situation seem even more explosive.
A thriller with style
Zoey Deutch, who was last seen in ZOMBIELAND: DOUBLE TAP and has so far stuck mainly to the comedy genre, now proves that she can do considerably more than string together cheap gags. Even though she clearly lingers in Rylance’s shadow and, together with her co-stars such as Dylen O’Brien and Johnny Flynn, rather shines with small appearances, they are nevertheless staged to the point and fit excellently into the overall work as a small piece of the puzzle.
Fortunately, we get a film that manages to conceal where the journey is going for a long period of time. In fact, especially at the beginning, marked by one calendar verse after another, so much narrative power is put into the protagonist’s build-up that the audience is led on the trail of a gentle drama that reveals to us a deeply personal love of dressmaking and sucks us into the obsession of this art with sharp images. In small, deliberate steps, some of which might even be set a little too carefully, creating an extremely quiet and creeping pacing, this transforms into a classic noir narrative that triggers one event after another like a gear train, always throwing the characters into a new, even more threatening situation. Feeding us new knowledge with small breadcrumbs, Moore delivers a rousing thriller the likes of which you love and haven’t seen in a long time.
Brilliant one-man show
The director manages to give fans of Mafiosi stories their full money’s worth while still picking up those who are not so cinematically comfortable with this organisation. In parts, even JOHN WICK-like circumstances are opened up here, which probably move on a very fine line between fiction and reality. Accordingly, the payoff in particular offers some subtle fight sequences that are worth seeing and are only topped by the countless twists and turns, some of which were unfortunately teased a little too early, but nevertheless absolutely fulfil the expectations, which are driven to a maximum value by the storytelling in the course of the film.
Last but not least, the chamber play THE OUTFIT opens up interesting possibilities for debates, especially dealing with the question at what point a person is guilty of complicity. Is it ethically justifiable to knowingly work for and with a crook, murderer or other criminal, when he or she has never harmed you in any way? Would it not perhaps even be a form of vigilante justice if we refuse to cooperate with a perpetrator without a court ruling as justification? Inconspicuously, Moore tries to establish these very questions and take them to the audience.
Conclusion
Picking up exactly where he once left off with THE IMITATION GAME, Moore gives us a near-perfectly balanced film that exhibits a wide range of tonalities while still focusing very precisely on its story. In his debut film, Moore always pulls the right strings and knows how to stage cinematographer Dick Pope’s spot-on images perfectly and even radiate the inner peace that his protagonist embodies and ultimately transmits to the audience. Here and there a few inaccurate details creep in that could have been avoided, and at times the pace could have been a little more steamy, but these are negligible marginalia. THE OUTFIT achieves what THE BATMAN lacks and proves what film noir can really do.
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Originaltitel | The Outfit |
Kinostart | 02.06.2022 |
Länge | ca. 105 Minuten |
Produktionsland | USA |
Genre | Krimi | Drama | Mystery | Thriller |
Verleih | Universal Pictures | Focus Features |
FSK |
Regie | Graham Moore |
Drehbuch | Graham Moore | Johnathan McClain |
Produzierende | Ben Browning | Alison Cohen | Ashley Fox | Nell Green | Amy Jackson | Johnathan McClain | Milan Popelka | Elizabeth Siegal | Scoop Wasserstein | David Zimmerman |
Musik | Alexandre Desplat |
Kamera | Dick Pope |
Schnitt | William Goldenberg |
Besetzung | Rolle |
Zoey Deutch | Mable |
Dylen O’Brien | Richie |
Mark Rylance | Leonard |
Johnny Flynn | Francis |
Nikki Amuka-Bird | La Fontaine |
Simon Russell Beale | Roy |
Johnathan McClain | FBI Agent |
Alan Mehdizadeh | Monk |
Chiedu Agborh | La Fontaine Bodyguard |
Michael Addo | La Fontaine Bodyguard |
Scoop Wasserstein | Customer |
Michal Forejtek | Gangster |
John Gumley-Mason | Tall Customer |
William Keetch | Gangster |
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Ein Triller mit Stil, na das hört sich spannend an. Da muss ich mal rein schauen.
Lg Alisa
Danke für die unermüdliche Arbeit, die ihr leistet.
Liebe Grüße Alisa