Zum tschadischen Spielfilm LINGUI – HEILIGE BANDE (2021) von Mahamat-Saleh Haroun, dem diesjährigen Berlinale-Beitrag CALL JANE von Phyllis Nagy und Eliza Hittmans vor zwei Jahren erschienenen NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER stieß Ende März ein weiteres modernes Filmdrama zum Thema Abtreibung. Basierend auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman der Französin Annie Ernaux gewann DAS EREIGNIS unter der Regie von Audrey Diwan den Hauptpreis der 78. Filmfestspiele von Venedig. Nach dem deutschen Kinostart im Frühling diesen Jahres erscheint das herausragend gespielte Filmdrama nun fürs Heimkino.
Darum geht es
Anne ist jung, Studentin für Literaturwissenschaften und will sich mit ihrem Studium einen Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen ermöglichen. Sie ist pflichtbewusst, zielstrebig und ihre Leistungen sind für die anstehenden Prüfungen vielversprechend. Doch dann erfährt sie, dass sie ungewollt schwanger geworden ist. Ärzte, Freundinnen und der Vater des Kindes sind entsetzt oder bleiben tatenlos und schotten sich von Anne ab. Auf sich allein gestellt und ihre Zukunft dahinschwinden sehend, entschließt sie sich dazu, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Doch in den 1960er Jahren sind Abtreibungen illegal und Anne sucht verzweifelt nach Hilfe …
Rezension
In selten statischen, oft belebten und dynamischen Bildern äußern sich intime Annäherungsversuche der Kamera an die junge, ausdrucksstarke Hauptfigur. Lange Einstellungen begleiten sie in Clubs, zu ihren Freundinnen und später zur Krankenstation. Close-ups von ihrem erbleichenden Gesicht kehren tiefste Emotionen und Schmerzen nach außen und zerrütten zunehmend die reine Beobachterperspektive des Publikums. Das eindringliche und natürliche Schauspiel der Nachwuchsdarstellerin Anamaria Vartolomei lässt kaum eine Möglichkeit, nicht unmittelbar und emotional ins Schicksal der jungen Frau verwickelt zu werden.
Ihre Isolation ist beklemmend und vielschichtig: im Freundinnenkreis, in der Familie, im diskriminierenden Bildungsapparat und Hochschulkontext. Nicht nur erhält sie wenig Hilfe und Aufklärung, ebenso gerät sie in Erklärungsnot und gegenüber Dozenten in demütigende Situationen. Wenn sie auf sich allein gestellt, heimlich zwischen den Regalreihen der Bibliothek in Büchern blättert oder ein Klavier zur musikalischen Untermalung nur einzeln angeschlagen wird, dann entspinnt sich eine Atmosphäre, die der Verlassenheit und Aussichtslosigkeit auch auf künstlerischer Ebene Grusel verleiht. Szenen der Selbstverletzung fängt die Kamera zwar nicht fokussiert ein, die schmerzverzerrte mimische Reaktion der Protagonistin jedoch umso entschiedener.
Machtlos
Ungeschönt mahnt der Film an, auf welche risikoreiche Reise Schwangere geschickt werden, wenn Möglichkeiten zu sicheren professionellen Schwangerschaftsabbrüche kriminalisiert und geächtet werden, wie es rund 60 Jahre nach der porträtierten Handlungszeit immer noch oder wieder aktuell ist. In seinem Ansinnen ist er keineswegs neu, mit seiner natürlichen und feinsinnigen Erzählweise jedoch nicht minder wirksam. Zur dringlichen Aktualität trägt das keineswegs verklärte oder angestaubte, im Gegenteil recht moderne Aufgreifen der 1960er Jahre bei. Darüber hinaus bietet DAS EREIGNIS nicht nur wegen seines vielseitig lesbaren Titels, sondern auch wegen entstandenen Figuren- und Gesellschaftsdynamiken sowie folgenschweren Entscheidungen Diskussionsstoff.
Das Ende mündet trotz aller Widrigkeiten in einem ungewohnt zuversichtlichen Moment – zumindest einen Augenblick lang ohne das Schicksal der Protagonistin, die stellvertretend für viele Frauen um ihr Selbstbestimmungsrecht kämpfte und wohl auch noch kämpfen wird, weiter vorwegzunehmen.
Fazit
DAS EREIGNIS ist ausgezeichnetes Schauspielkino, welches trotz historischen Settings seine Aktualität und Dringlichkeit nie missen lässt. Ein packendes Figurendrama, stellenweise unerbittlich nah am Leid seiner Figur, ohne sich jedoch jemals geschlagen zu geben. Einfühlsames französisches Kino.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Hinterlasse einen Kommentar