Rezension
Die einfühlsame Parabel wird dabei von David Lynch (dem “Meister des Bizarren”) einfach, aber durchaus effektiv in Szene gesetzt: Die kontrastreiche Bildsprache, das herausragende Make-up, das nahegehende Schauspiel von John Hurt und Anthony Hopkins und die skurrilen Settings sorgen für eine erschreckende, aber zugleich tief berührende Atmosphäre. Dabei nimmt der Film durch seine bewusst eingesetzte Schwarz-Weiß-Fotografie große Anleihen beim deutschen Expressionismus, der auch schon Meisterregisseuren wie Tim Burton als Inspiration für seine melancholischen Märchen diente. Und im Grunde haben wir hier auch so etwas wie ein melancholisches Märchen – nur eben eines, das auf einer wahren Begebenheit basiert. Das Drehbuch von Mel Brooks trägt dazu sein Übriges bei – und beweist damit endgültig die Vielschichtigkeit des Parodien-Königs.
Sowohl die Dramaturgie als auch die dazugehörige Inszenierung spielen mit unserer Wahrnehmung: John Merrick wird von den meisten um ihn herum nur als eine bestialische Kreatur wahrgenommen, und das zeigt uns der Film – in dem er uns seine Gestalt zu Beginn erst einmal nur schemenhaft oder gar nicht zeigt, sodass der Fantasie viel Spielraum gelassen wird. So erscheint uns Merrick zunächst selbst als eine Ausgeburt des Unbewussten – und somit als etwas Bedrohliches.
Shakespeare in love
Doch bei den Nachforschungen des Doktors stellt sich schon bald heraus, dass sich hinter dem schweren Schädel ein hochsensibles und intelligentes Gemüt versteckt, das gerne Shakespeare zitiert und vom Theater träumt, und sowohl die handelnden Charaktere innerhalb des Films als auch wir selbst werden in unserer ungerechten Denkweise entlarvt. Somit wachsen wir als Publikum mit dem Protagonisten, je mehr uns seine Menschlichkeit und seine damit einhergehende Würde bewusst wird – und gleichzeitig fühlen wir uns schlecht dafür, dass uns das nicht schon von Anfang an gelungen ist. Auch scheut Lynch nicht davor zurück, uns mit der traurigen Ignoranz der Mehrheit zu konfrontieren, die ihre Meinung über Merrick erst dann ändert, als er sich adrett gekleidet in die vornehme Gesellschaft einführen lässt.
Mit diesem Kontrast zwischen sittenhafter Kultur und würdeloser Freakshow spielt der Film – und wirft dabei die Frage auf, was einen Menschen zum Menschen macht. Wird er erst durch die Kultur zu einem Individuum, dem Würde und Ehre zusteht? Oder ist die Kultur nicht viel eher ein Akt der Entmenschlichung, weil sie eine oberflächliche Normativität vorgibt, die Andersartige von vornherein ausschließt? Ist sie am Ende gar ihre ganz eigene Freakshow?
Besonders deutlich wird dies vor allem dann, wenn Merrick von der Gesellschaft wiederholt ungerecht (oder gar unmenschlich) behandelt wird. In diesen Momenten wird der Zuschauerschaft klar, dass nicht der vornehme Merrick im Anzug, sondern die gierigen Gaffer die wahren Freaks sind.
Anders sein ist cool
Umso mehr gehen dann die Szenen zu Herzen, in denen Merrick sich wie ein Mensch fühlen kann – so zum Beispiel, als er, nachdem ihn der Doktor zu sich und seiner Frau nach Hause eingeladen hat, in Tränen der Dankbarkeit ausbricht, weil er es nicht gewohnt ist, so gut behandelt zu werden. Doch die traurige Wahrheit bleibt bis zum Ende des Films unverändert: Nur einige wenige sind schon soweit, Merricks wahren Wert anzuerkennen, während der Rest sich nur den normativen Ansichten der Mehrheit unterordnet.
Die Aussage “Anders sein ist cool” war sicherlich schon in den 80ern nichts besonders innovatives mehr, und ist heute mittlerweile in jedem zweiten amerikanischen Teenie-Film Programm. Doch Lynchs Kinomärchen, das sich genügend Zeit für seine Charaktere lässt und seine Aussagekraft häufig in der Stille findet, fügt diesem Gedanken eine bis heute relevante Vielschichtigkeit hinzu: Die Unmöglichkeit nämlich, in einer auf zu engen und oberflächlichen Normen aufgebauten Gesellschaft offen gegenüber dem zu sein, das diesen Normen nicht entspricht. Wenn Merrick, nachdem er aufgrund seines ewigen Schweigens für “dumm” erklärt wurde, schließlich spricht und offenbart, dass er sich nur aus Angst vor Verurteilung mit seinen Worten zurückgehalten hat, blutet zumindest mir das Herz.
Zugegeben: ab einem gewissen Punkt wiederholt sich die Dramaturgie etwas, und das gerade an einem Punkt, wo einem langsam schon klar geworden ist, worauf der Film hinaus will – aber selbst hier bleibt die Inszenierung weiterhin großartig und rundet die Geschichte mit einem gelungenen Ende ab, dass weder in Kitsch noch in überzeichnete Melodramatik auszuarten braucht, um wirksam zu sein.
Fazit
Eine beispielhafte Verfilmung einer unverwechselbaren Biografie, die mit viel Empathie und Liebe zum Detail erzählt wird. Dem Film gelingt es auf allen stilistischen Ebenen, seine Aussage zu unterstreichen. Auch wenn die Dramaturgie in der zweiten Hälfte des Films an manchen Stellen etwas hinkt, tut das dem Gesamtwerk keinen Abbruch. Wenn eine Parabel mit effektiven Mitteln das beim Publikum auslöst, was sie vermitteln will, so hat sie ihren Zweck erfüllt.
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Originaltitel | The Elephant Man |
Kinostart | 9.10.1980 |
Länge: | 125 minuten |
Produktionsland | United States of America |
Genre: | Drama | Historie |
Regie | David Lynch |
Executive Producer | Stuart Cornfeld |
Producer | Jonathan Sanger | Mel Brooks |
Kamera | Freddie Francis |
Musik | John Morris |
Cast | Anthony Hopkins, John Hurt, Anne Bancroft, John Gielgud, Wendy Hiller, Freddie Jones, Michael Elphick, Hannah Gordon, Helen Ryan, John Standing, Dexter Fletcher, Lesley Dunlop, Phoebe Nicholls, Pat Gorman, Claire Davenport, Orla Pederson, Patsy Smart, Frederick Treves, Stromboli, Richard Hunter |
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