31 Tage trennen das aktuelle Kinojahr noch vom Beginn des nächsten Jahres: Zeit, um ein wenig auf das Film-Jahr 2024 zurückzuschauen. Ab heute blicken wir jeden zweiten Tag im Dezember auf die wichtigsten deutschen Kinostarts eines Kalendermonats zurück.
Woher kommen neue, innovative Erzählstimmen? Welche Filme haben uns enttäuscht zurückgelassen? Und welche Geschichten hatten dieses Jahr etwas Herausragendes zu erzählen? Bis zum Ende des Jahres ist noch etwas Zeit, um ein paar Filme aus diesem Jahr nachzuholen. Am heutigen ersten Advent steht der erste Monat in den Startlöchern: Die Kinostarts im Januar 2024.
Rückkehr eines Meisters
Eingeleitet wurde das Kinojahr hierzulande, und das ist längst kein Geheimtipp mehr, von Hayao Miyazakis preisgekrönten Spätwerk DER JUNGE UND DER REIHER. Ja, es gibt sie noch, diese unbändigen, kreativen Märchen, die abseits der großen Animationsfilmstudios auf die Leinwand gebracht werden. Lida Bach schrieb darüber:
„How do you life?“ Die (original)titelgebende Frage Hayao Miyazakis kontemplativen Kunstwerks ist in ihrer Mehrdeutigkeit zugleich zeitgemäßer Spiegel des Schlussworts seines vorherigen Films und indirekte Aufforderung zur Introspektion. Ein solches Ergründen der eigenen Ethik in einer von Trauer, Krieg und Furcht erschütterten Ära ist diese enigmatische Exkursion in eine gewohnt grandios gezeichnete Welt. Deren bezaubernde Bildsprache vereint mühelos grausame Realität und verspielte Phantastik in einem zwischen Poesie und Pragmatismus, Offensichtlichem und Opaken mäandernden Abschiedsfilm.
An den Rand gedrängt
Menschengroße Sittich-Soldaten oder einen Reiher, aus dessen Schnabel ein Männchen steigt, gab es in Thomas Cailley dystopischen Thriller ANIMALIA zwar nicht zu sehen, dafür wurde der französische Spielfilm von allerhand anderen Mensch-Tier-Hybriden besiedelt. In der zweiten Januarwoche startete der in Cannes uraufgeführte Science-Fiction- und Abenteuerfilm in unseren Kinos und hielt die Fahne des europäischen Genrefilms weit nach oben. Zwar scheint die Allegorie des Films, in dem andersartige Mutanten gezwungen werden, ihr Zuhause und ihre Familie zu verlassen und in spezielle Einrichtung geschickt werden, nicht immer so komplex und tiefgreifend wie sie das Potential gehabt hätten, als atmosphärisch dichtes, gut ausgestattetes Abenteuerdrama kann ANIMALIA aber über weite Strecken überzeugen.
Entschlackt von allem Magischen ist hingegen das deutsch-iranische Spielfilmdrama LEERE NETZE von Behrooz Karamizade über die Beziehung des jungen, arbeitssuchenden Iraner Amirs zu Narges, der Tochter einer gut situierten Familie. In unaufdringlichen und dennoch kraftvollen Bildern gibt Karamizade Einblick in eine raue und herausfordernde Lebensrealität:
Einblicke in den Mikrokosmos der Fischer bleiben schmucklos und grob, tragische Einzelschicksale ergänzen die geerdeten Beobachtungen mit fröstelnder Beiläufigkeit. Politisch zurückhaltend greift LEERE NETZE das individuelle Ringen innerhalb einer Welt von Restriktionen auf, eingegrenzt von Geldlosigkeit und dem Patriarchat. Gefangen in Netzen, die bis zum trüben, realistischen Ende niemals wirklich leer sind. Sondern immer voller Fische, zerplatzter Träume oder Ertrunkener.
Oscar-Kino im Januar
Knapp einen Monat waren die vergangenen Weihnachtsfeiertage her, da fand THE HOLDOVERS seinen Weg auch in die deutschen Kinos. Der Film erhielt für die darauffolgende Oscar-Verleihung 5 Nominierungen, von denen am Ende nur Da’vine Joy Randolph als Beste Nebendarstellerin eine Auszeichnung in den Händen halten konnte. Für unseren Chefredakteur Michel gehört der Film dennoch mit zum Besten, was es dieses (Früh-)Jahr im Kino zu sehen gab.
Bei den Oscars erfolgreicher war Yorgos Lanthimos POOR THINGS. Vier Goldjungen konnte der erste von zwei in diesem Jahr in Deutschland gestarteten Filmen des Griechen abräumen, darunter Holly Waddington für das Beste Kostüm und Shona Heath, James Price und Zsuzsa Mihalek für das Beste Szenenbild. Den großen Erwartungen unserer Redaktion wurde der Film, trotz einer eindrucksvollen Emma Stone in der Hauptrolle, nicht gerecht.
Der Mix aus düsterem Märchen, schwarzhumoriger Groteske und moderner Frankenstein-Bearbeitung lebt von seiner aufwendigen Gestaltung, der Regisseur-eigenen Seltsamkeit und allen voran Emma Stones ausdrucksvoller Performance. Indes überragen Kostüme und Kulissen Facetten der Figuren, Themen und Dialoge und ausgedehnte zwei Stunden zwanzig die Präzision vorangegangener Werke.
Von Bällen, einem Bienenzüchter und Babys zum Mitnehmen
Bevor im Juni und Juli hierzulande der Ball zur Europameisterschaft im Fußball durch die Stadien rollte, lief THOR-LOVE AND THUNDER- und JOJO RABBIT-Regisseur Taika Waititi mit seinem neuen Film NEXT GOAL WINS auf den Leinwänden auf. Seine Komödie über die Fußballmannschaft von Amerikanisch-Samoa, die angesichts der bevorstehenden Qualifikationsspiele für die Weltmeisterschaft 2014 einen neuen Trainer (Michael Fassbender) einstellte, bietet schrullige Überspitzungen, verwandelte dabei aber kaum einen cineastischen Elfmeter.
Dass der weiße wohlhabende straighte cis Mann lernt, seine Ausraster zu beherrschen, erscheint als bedeutendere Entwicklung als die sportliche Verbesserung der Mannschaft. Deren Mitglieder reduziert der spürbar unmotivierte Plot auf ihre Spitznamen. Außer Jaiyah, die von Rongen mit übergriffigen Fragen und Deadnaming erniedrigt wird, aber sich bei ihm für ihre verständliche Reaktion entschuldigen muss. Taika Waititis statt selbstironische nur selbstdarstellerische Cameo zeigt exemplarisch die humoristische Verflachung seiner lustlosen Inszenierung. Die macht aus der originellen Vorlage visuell und dramatisch gleichermaßen fade Fließbandware, in deren Sportszenen die Dynamik und Fokus missende Kamera noch deutlich schlechter ist als die Spielenden. Klarer filmischer Fehlschuss.
Tödlichere Schüsse fielen derweilen im neuen Actionfilm mit Jason Statham, der einen Spezialagenten im Ruhestand verkörperte, und sich mit seiner Figur auf Rachefeldzug begab. Auch wenn längst nicht jeder filmische Shot ins Schwarze trifft, konnte Hel dem Film doch etwas abgewinnen:
Gleichzeitig schafft die Action von THE BEEKEEPER es spannend zu bleiben, da sich dazu entschieden wurde, dass Jason Statham so gut wie keine Schusswaffen benutzt. Er kommt gegen die Übermacht schwer bewaffneter Söldner oder Sicherheitskräfte problemlos mit dem Stellen von Fallen, Überlisten und verstecken an. Damit hebt sich THE BEEKEEPER als Actionfilm von den hohlen Ballerorgien wie THE EXPENDABLES 4 ab.
Ebenfalls hierzulande im Januar gestartet: der Film BABY TO GO über eine Zukunft, in der es für Familien möglich ist, Babys mit Hilfe einer künstlichen Gebärmutter, eines Pods, auszutragen. Emilia Clarke und Chiwetel Ejiofor spielen die jungen Eltern in Sophie Barthes romantisch-komödiantisch angehauchten Science-Fiction-Dramas, das sowohl die Tiefe seiner moralischen Fragestellungen, als auch die Spannung der futuristischen Ausgangssituation nie ausschöpfen kann. Anfang des Jahres konnte uns die Regisseurin dennoch ein paar spannende Einblicke in den Film geben, schaut doch gern noch einmal bei unserem Interview vorbei:
Weitere Kinostarts im Januar
PRISCILLA von Sophia Coppola
ROLE PLAY von Thomas Vincent
„Alles an Thomas Vincents wirrem Genre-Crossover wirkt wie lustlos zusammengeworfene Überbleibsel aus wohlweislich verworfenen Projekten.“ (Lida Bach)
15 JAHRE von Chris Kraus
THE ROYAL HOTEL von Kitty Green
MAMI WATA von C.J. Obaysi
“Folkloristisches Fantasy-Drama aus Nigeria mit eingängigen Schwarzweiß-Aufnahmen, aufdringlicher Symbolik und eigensinniger Atmosphäre” (Paul Seidel)
WO DIE LÜGE HINFÄLLT von Will Gluck
THE PALACE von Roman Polanski
SPRICH MIT MIR von Janin Halisch
“Konfliktgeladenes Mutter-Tochter-Drama vor trüber Ostseekulisse: schnörkellos gefilmt, aufgewühlt gespielt, emotional selten schlagkräftig genug .” (Paul Seidel)
KNOCHEN UND NAMEN von Fabian Stumm
„Dynamische Choreographien, passable Songs mit ein paar amüsanten Zeilen und knallige Kostüme liefern den kindlich-bunten Rahmen der mitreißenden Darstellungen, die das überflüssige Quasi-Remake der verstaubten Kult-Komödie tragen.“ (Lida Bach)
STELLA. EIN LEBEN. von Kilian Riedhof
DAS ERWACHEN DER JÄGERIN von Neil Burger
DIE CHAOSSCHWESTERN UND PINGUIN PAUL von Mike Marzuk
PLASTIC FANTASTIC von Isa Willinger
und etliche andere
Hinterlasse einen Kommentar