Rezension
aus dem Programm des 40. DOK.fest München
In einer abgelegenen Inuit-Siedlung in der kanadischen Arktis spürt Marie Zrenner die Protagonistinnen ihres dokumentarischen Langfilmdebüts auf: die junge Annah-Sky, die bei ihrem alleinerziehenden Vater lebt, zwei High School-Schülerinnen kurz vor dem Abschluss und weitere Bewohner*innen Kangiqsualujjuaqs. Vor kühler Kulisse kreisen deren Gedanken nicht nur um die anstehende Zukunft nach der Schule, sondern auch um die von kolonialen Furchen durchzogene Vergangenheit. Einfühlsame Bilder verdichten ihre Gedanken und Lebensrealität zwischen Moderne, Tradition und Religion zu leisen, aber kraftvollen Einsichten. Zu einem Film, der inmitten großer Landschaften intime Emotionen aufspürt, unkommentiert stets Augenhöhe bewahrt und empathisch die Nähe zu seinen Figuren sucht.
Der Frühling schleicht sich nicht nur durch die Wiesen und Bäche, in Gestalt der jungen Protagonistinnen zeigt er sich auch in einer Generation, die nach ihrer eigenen Stimme sucht und einen Teil ihrer Identität anklagend zurückfordert. Sei es die tief verwurzelte Sprache oder Riten des Schamanismus, Zrenner nimmt sich den Konflikten seiner Protagonistinnen an und gewährt persönliche Einblicke ohne melodramatische oder andere Verfremdungen. Keine aufgezwungenen dramaturgischen Kalkulationen, keine direkten Interviews, keine weiteren Einordnung. Ein Dabeisein und Dabeibleiben, ein Hineinschauen, aber auch Loslassen. Eingefangen von den fesselnden Aufnahmen von Youssef Nassar, die gleichermaßen innere und äußere Landschaften festhalten, die die Freiheits- und Sehnsuchtsgefühle der Figuren untermauern und für sich selbst stehend das Leben weit abgeschnitten weder verklären, noch als abgestanden porträtieren.

SPRING IN KANGIQSUALUJJUAQ © DOK.fest München
Innerhalb des Mikro-Genres an Dokumentarfilmen, die Ausschnitte von Lebenswelten so roh und ungefiltert wie möglich erfassen wollen, ist SPRING IN KANGIQSUALUJJUAQ vielleicht keine Coming of Age- Geschichte, die sich neuen Themen widmet. Eher eine, die innerhalb ihrer einzelnen Splitter auch mal etwas unentschlossen daherkommt. Aber auch eine, die vor ungeschminkter Kraft und Sympathie strotzt, die in ihren auch beiläufig gefilmten Gesprächen, den ernsten, aber keineswegs hoffnungslosen Überlegungen einzelner Personen über knapp achtzig Minuten eine Menge loswerden und einer Menge davon Gewicht geben kann. Den in Vergessenheit geratenen Ungerechtigkeiten, der Freiheit auf Fahrrädern, dem traditionellem Gesang, einem persönlichen Lied, dem Abschied von der Schule oder all den vielschichtigen Ängsten. Sei es davor, einem Stück seiner Identität beraubt zu werden, sei es vor der ungewissen Zukunft, oder einfach nur vor Obst und Erdnussbutter.
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