Nachdem uns 2014 gezeigte wurde, wie in BLIND eine erblindete Frau sich zunehmend in eine Fantasiewelt zurückzieht, erschafft Regisseur Eskil Vogt mit seinem zweiten Langfilm THE INNOCENTS eine tatsächliche Fantasiewelt. Sein Regiedebüt konnte damals bereits begeistern und gewann beim Sundance Film Festival den Preis für das Beste Drehbuch und wurde bei der Berlinale in der Kategorie „Label Europa Cinemas“ ausgezeichnet. Neben seiner Arbeit als Regisseur ist er jedoch vor allem Drehbuchautor und als solcher in diesem Jahr sogar für einen Oscar® nominiert. Im Sommer wird mit DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT der Abschluss einer Trilogie erscheinen, der Ende März sogar die Chance hat, bei den Academy Awards als bester internationaler Film ausgezeichnet zu werden. Für THE INNOCENTS setzt Vogt auf einen Laien-Cast, zu welchem unter anderem eine Aktivistin, vier Kinder sowie eine Komikerin gehören. Einzig Nebendarsteller Morten Svartveit kann auf etwas mehr Schauspielerfahrung zurückblicken.
Darum geht es…
Eine riesige Hochhaussiedlung versperrt den Blick auf eine eigentlich sehr idyllische Gegend. Ein kleiner See, ein großer angrenzender Wald und eine aufregende Spielfläche für Kinder prägen die Umgebung. So bietet die neue Wohnung von Ida, Anna und ihren Eltern einen hervorragenden Lebensraum, in welchem sich die Familie genüsslich auf ihre Sorgen und Probleme konzentrieren kann. Auch wenn Ida nicht so recht zufrieden scheint und viel Zeit benötigt, sich einzugewöhnen, war der Umzug wohl die richtige Wahl, denn gerade Anna benötigt einen Ort, welcher deutlich vom Alltag entschleunigt. Das junge Mädchen ist Autistin und kann nicht verbal kommunizieren. Dies bereitet den Eltern massive Schwierigkeiten im Umgang, denn das Mädchen kann nicht einmal Schmerzen kundtun. Nachdem Ida erste Freunde in der Siedlung kennen lernt, entdecken die Kinder überraschende Fähigkeiten in sich, und auch Anna scheint von diesen zu profitieren. Doch der jugendhafte Leichtsinn, der ihnen innewohnt, hat verheerende Folgen.
Rezension
THE INNOCENTS ist alles andere als ein normales Jugend-Drama. Es ist eine liebevolle Zusammenstellung verschiedenster inszenatorischer Nuancen, die ihres Gleichen sucht. Der Film lebt von Vorahnungen, Befürchtungen, Ängsten, Hoffnung, Zusammenhalt und Freundschaft und steht im Konflikt mit Missgunst, Hass, Übermut und überzogener Selbstdarstellung. Dabei wirkt das Werk anfangs noch recht unscheinbar und sogar löblich. Der norwegische Regisseur setzt auf die inneren Dimensionen von Diversität und zeigt uns einen Cast, der vielfältiger kaum sein könnte. Neben Kindern und Elternteilen, verschiedenster Hautfarben und einem deutlichen Fokus auf das weibliche Geschlecht lässt Vogt trotz einer recht übersichtlichen Zusammenstellung von Schauspielenden sogar Krankheiten mit einfließen, die als völlig normal und selbstverständlich betrachtet werden, so wie es auch sein soll. Mina Yasmin Bremselth Asheim ist ein junges Mädchen mit Pikmentstörung, welches dies auch stolz in ihrer Figur Aisha zeigt.
Etwas umstrittener dürfte es bei der Rolle der Anna werden, da diese unter Autismus leidet. Schauspielerin Alva Brynsmo Ramstad hingegen besitzt keine entsprechenden Veranlagungen, was ihre schauspielerische Leistung einerseits umso beeindruckender macht, denn sie beweist wirklich eine starke Identifikation mit ihrer Figur und lässt an sich keine Zweifel aufkommen, dass sie nicht auch im realen Leben die gezeigte Persönlichkeit ist. Andererseits jedoch haben wir vor ziemlich genau einem Jahr feststellen müssen, wie geächtet es mittlerweile im Filmbusiness ist, wenn gesunde Menschen in solche Rollen schlüpfen. Sia wurde für ihren Film MUSIC stark kritisiert, nachdem sie mit Maddie Ziegler eine ebenfalls autistische Figur mit einer vollkommen gesunden Schauspielerin besetzt hat. Der Film wurde daraufhin massiv kritisiert und verzeichnet in einigen Portalen unterirdisch schlechte Gesamtbewertungen. Die Hoffnung ist jedoch gegeben, dass THE INNOCENTS diesem Diskurs nicht zum Opfer fällt.
Gefühl für die sanften Töne
Es wäre schlichtweg traurig, denn der Film bietet uns endlich mal wieder eine wundervoll ungewöhnliche Geschichte, die über die zugegebenermaßen recht lange Spieldauer von fast zwei Stunden sehr ruhig und unaufgeregt erzählt wird, dabei uns jedoch mehrfach den Atem ersticken lässt. Vogt schafft es, scheinbar unaufgeregte und alltägliche Situationen zu einem regelrechten Horrormoment eskalieren zu lassen, obwohl der Film nicht unter die klassische Definition dieses Genres fällt. Nicht selten stehen die Figuren sich nur gegenüber und starren sich wutentbrannt in die Augen, doch angesichts der etablierten Anomalie, nach welcher die Kinder zumindest teilweise von bestimmten Fähigkeiten gebrauch machen können, entwickeln sich daraus schockierende Ereignisse, die teilweise nicht leicht zu vertragen sind.
Wo der atmosphärisch recht ähnliche MIDSOMMAR auf manch absurde Szenen skrupellos draufhält, blendet THE INNOCENTS zwar weg, doch Vogt weiß umso besser, mit Geräuschen und Melodien zu arbeiten, die unheilbringendes erahnen und das Blut in den Adern gefrieren lassen. So schafft es dieser Film sogar noch deutlich unerträglicher zu werden und uns als Publikum regelrecht in psychisch verstörende Elemente hineinzusaugen. Umso amüsanter ist jedoch der Gedanke an die jeweiligen Drehmomente, in denen offenbar die Protagonist*innen tatsächlich einfach nur in der Gegend rumstanden und alles übrige erst in der Postproduktion entstand. Dabei sei jedoch gesagt, dass die vielen nachbearbeiteten Szenen stets sehr dezent mit den Effekten umgehen und voll auf Minimalismus setzen. Dennoch entfalten die Bilder nicht weniger Wirkung.
Greifbare Spannung
Schon früh macht Vogt bei seiner Figurenzeichnung klar, wem wir trauen können und wem nicht, und entwickelt die entsprechenden Sympathien zu den Figuren hervorragend. Zusammen mit den Kindern begeben wir uns auf die Entdeckungsreise ihrer Fähigkeiten und werden immer wieder von neuen, aufkommenden Stärken verblüfft, die die Gesamthandlung stets noch einen Zacken dramatischer werden lässt. Jeder der Kinderstars liefert dabei ein begnadetes Schauspiel ab. Insbesondere in der Mimik können alle Kinder punkten, denn in dieser ist oftmals deutlich abzulesen, was in diesem Moment gedacht wird. Zudem ist es schon eine Leistung, Kinder einfach irgendwo hinzustellen und nur durch ein paar bewegende Sandkörner eine intensive und bedrohliche Handlung zu erzählen. Nicht selten sitzt das Publikum in der Erwartung da, dass der Höhepunkt der Grausamkeit erreicht sei, doch immer wieder werden wir eines Besseren belehrt. Das überraschendste jedoch ist wohl, dass THE INNOCENTS in einem der besten Payoffs der Filmgeschichte endet.
Fazit
THE INNOCENTS zeigt uns wieder einmal, dass es nicht das große Budget, die überragenden Effekte, die namhaften Schauspielenden oder das rasante Erzähltempo sind, die die Qualität eines Films bestimmen. Auch wenn das Budget für diese Produktion bisher nicht bekannt ist, ist davon auszugehen, dass Vogt mit äußerst wenigen Ausgaben überwältigende Bilder erzeugt hat, die trotz ihrer enormen Schlichtheit durch ein sehr feinfühliges Drehbuch an Ausdruck gewinnen. Zudem erzeugt der Norweger ein Bewusstsein dafür, wie elementar Musik- und Soundgestaltung sein können und welche Wirkung kleinste Geräusche wie ein kaum hörbares Ticken zu jedem Blinzeln einer Figur sein können. Dieser Film könnte zu einer der Independent-Überraschungen des Jahres werden und ist auf jeden Fall eine Sichtung wert. Doch Vorsicht: er ist nichts für schwache Nerven.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Im Grunde habe ich bisher fast noch nie wirklich Angst in einem Film entwickeln können. Zwar hat zum Beispiel MIRRORS mir regelrecht das Fürchten vor Spiegeln gelehrt, doch es muss erst ein norwegischer Regienewcomer daherkommen, um mir in seinem zweiten Langfilm zu zeigen, was es bedeutet, wirklich mit Filmfiguren zusammen Qualen der Panik zu durchleben. THE INNOCENTS könnte als kleines Geschwisterkind von MIDSOMMAR bezeichnet werden, denn die klassischen Klischees treffen allesamt zu: Er ist origineller, kreativer, unbekümmerter und verschafft sich durch seine rebellischen Züge Gehör beim Publikum. Gleichzeitig bekommen wir jedoch eine viel wohligere Atmosphäre, sympathischere Figuren, einen beeindruckend diversen Cast sowie einige Momente, die uns das Blut in den Adern gefrieren lassen, weil Regisseur Vogt einfach durchschaut hat, wie effektiv eine Erwartungshaltung eingesetzt werden kann und wie nah beieinander psychischer Terror und vor allem Soundgestaltung liegen können. Für mich schon jetzt ein absolutes Highlight des Jahres.
Wie hat Dir der Film gefallen?
After showing us in 2014 how a blind woman increasingly withdraws into a fantasy world in BLIND, director Eskil Vogt creates an actual fantasy world with his second feature film THE INNOCENTS. His directorial debut was already able to inspire at the time and won the award for Best Screenplay at the Sundance Film Festival and was awarded in the category “Label Europa Cinemas” at the Berlinale. In addition to his work as a director, however, he is primarily a screenwriter and as such was even nominated for an Oscar® this year. This summer will see the release of VERDENS VERSTE MENNESKE, the conclusion of a trilogy that even has a chance of being named Best International Film at the Academy Awards at the end of March. For THE INNOCENTS, Vogt relies on an amateur cast that includes an activist, four children and a comedian. Only supporting actor Morten Svartveit has more acting experience.
What it’s about…
A huge high-rise housing estate blocks the view of what is actually a very idyllic area. A small lake, a large adjacent forest and an exciting play area for children characterise the surroundings. Thus, the new flat of Ida, Anna and their parents offers an excellent living space in which the family can focus on their worries and problems with pleasure. Even though Ida does not seem very happy and needs a lot of time to settle in, the move was probably the right choice, because Anna in particular needs a place that clearly decelerates from everyday life. The young girl is autistic and cannot communicate verbally. This causes massive difficulties for the parents in dealing with her, because the girl cannot even express pain. After Ida meets her first friends in the settlement, the children discover surprising abilities in themselves, and Anna also seems to benefit from them. But the youthful recklessness inherent in them has disastrous consequences.
Review
THE INNOCENTS is anything but a normal youth drama. It is an affectionate compilation of the most diverse directorial nuances, which is unparalleled. The film lives from forebodings, fears, anxieties, hope, cohesion and friendship and is in conflict with resentment, hatred, cockiness and exaggerated self-promotion. At the same time, the work seems quite unimpressive and even commendable at first. The Norwegian director focuses on the inner dimensions of diversity and shows us a cast that could hardly be more diverse. In addition to children and parents, a wide variety of skin colours and a clear focus on the female gender, Vogt even includes illnesses that are considered completely normal and self-evident, as they should be, despite a rather manageable compilation of actors. Mina Yasmin Bremselth Asheim is a young girl with pikment disorder, who proudly shows this in her character Aisha.
It might be a bit more controversial with the role of Anna, as she suffers from autism. Actress Alva Brynsmo Ramstad, on the other hand, has no such predispositions, which makes her acting performance all the more impressive on the one hand, because she really demonstrates a strong identification with her character and in itself leaves no doubt that she is not also the personality shown in real life. On the other hand, however, we had to realise almost exactly a year ago how outlawed it has become in the film business for healthy people to slip into such roles. Sia was heavily criticised for her film MUSIC after she cast Maddie Ziegler, another autistic character, with a perfectly healthy actress. The film was subsequently massively criticised and recorded subterranean poor overall ratings on some portals. However, there is hope that THE INNOCENTS will not fall victim to this discourse.
A feeling for the soft tones
It would be simply sad, because the film finally offers us another wonderfully unusual story, which is told very calmly and unagitatedly over the admittedly rather long playing time of almost two hours, yet leaves us holding our breath several times in the process. Vogt manages to escalate seemingly unexciting and everyday situations into a downright horror moment, although the film does not fall under the classic definition of this genre. Not infrequently, the characters merely face each other and stare furiously into each other’s eyes, but in view of the established anomaly, according to which the children can at least partially make use of certain abilities, shocking events develop from this, some of which are not easy to stomach.
Whereas the atmospherically quite similar MIDSOMMAR ruthlessly hammers away at some absurd scenes, THE INNOCENTS fades away, but Vogt knows all the better how to work with sounds and melodies that foreshadow the ominous and make the blood run cold in the veins. In this way, this film manages to become even more unbearable and to literally suck us, the audience, into psychologically disturbing elements. All the more amusing, however, is the thought of the respective filming moments in which the protagonists were apparently just standing around and everything else only came into being in post-production. It should be said, however, that the many post-production scenes always handle the effects very discreetly and rely fully on minimalism. Nevertheless, the images have no less effect.
Tangible tension
Early on in his character sketching, Vogt makes it clear who we can trust and who we can’t, and does an excellent job of developing the corresponding sympathies for the characters. Together with the children, we embark on a voyage of discovery of their abilities and are repeatedly amazed by new, emerging strengths that always make the overall plot a notch more dramatic. Each of the child stars delivers a gifted performance. All the children score particularly well in their facial expressions, which often clearly show what they are thinking at that moment. Moreover, it is quite an achievement to simply put children somewhere and tell an intense and threatening story just by moving a few grains of sand. Not infrequently, the audience sits there expecting the climax of cruelty to have been reached, but time and again we are proved wrong. The most surprising thing, however, is probably that THE INNOCENTS ends in one of the best payoffs in film history.
Conclusion
THE INNOCENTS shows us once again that it’s not the big budget, the outstanding effects, the big-name actors or the fast-paced narrative that determine the quality of a film. Even though the budget for this production is not yet known, it can be assumed that Vogt has created overwhelming images with extremely little expenditure, which, despite their enormous simplicity, gain in expression through a very sensitive screenplay. In addition, the Norwegian creates an awareness of how elementary music and sound design can be and what an impact the smallest sounds can have, such as a barely audible ticking to each blink of a character. This film could become one of the independent surprises of the year and is definitely worth a viewing. But beware: it is not for the faint-hearted.
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Originaltitel | De uskyldige |
Kinostart | 14.04.2022 |
Länge | ca. 117 Minuten |
Produktionsland | Norwegen | Schweden | Dänemark | Finnland | Frankreich | Vereinigtes Königreich |
Genre | Drama | Horror | Mystery | Thriller |
Verleih | capelight pictures |
FSK | unbekannt |
Regie | Eskil Vogt |
Drehbuch | Eskil Vogt |
Produzierende | Eskil Vogt | Jessica Balac | Dave Bishop | Celine Dornier | Maria Ekerhovd | Axel Helgeland | Misha Jaari | Eva Jakobsen | Mikkel Jersin | Lizette Jojic | Kir Laursten | Mark Lwoff | Lillian Løvseth | Ragna Nordhus Midtgard | Lina Pedersen | Katrin Pors | Eric Tavitian | Magnus Thomassen |
Musik | Pessi Levanto |
Kamera | Sturia Brandth Grøvlen |
Schnitt | Jens Christian Fodstad |
Besetzung | Rolle |
Rakel Lenora Fløttum | Ida |
Alva Brynsmo Ramstad | Anna |
Sam Ashraf | Ben |
Mina Yasmin Bremseth Asheim | Aisha |
Ellen Dorrit Petersen | Mutter von Ida und Anna |
Morten Svartveit | Vater von Ida und Anna |
Kadra Yusuf | Mutter von Aisha |
Lisa Tønne | Mutter von Ben |
Irina Eidsvold Tøien | Lege |
Marius Kolbenstvedt | Mann mit Stein |
Kim Atle Hansen | Mannen ved døren |
Nor Erik Vaagland Torgersen | 14-åringen |
Birgit Nordby | Kvinnen på broen |
Georg Grøttjord-Glenne | Gutt som brekker beinet |
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