Von kleinen Filmen, die große Schatten werfen




Woran sich viele Wettbewerbsfilme und andere Festivalbeiträge in anderthalb bis zweieinhalb Stunden versuchen, gelingt manchen Vertretern der Berlinale Shorts in nur einem Bruchteil dieser Laufzeit. Bei den 72. Filmfestspielen in Berlin standen in der 2006 eingerichteten Sektion für kurze Filme 21 Animations- und Realfilme aus aller Welt im Programm. Von der internationalen Kurzfilmjury, bestehend aus Rosa Barba (Italien), Reihard W. Wolf (Deutschland) und Payal Kapadai (Indien), eingeschätzt, wurden auch in dieser Sektion die heißbegehrten Bären für unter anderem den Besten Kurzfilm verliehen.

Anzusehen war die abwechslungsreiche Auswahl an bis zu 30 minütigen Kinostimmen in mehreren Filmblöcken. Einzelne Beiträge sowie die Gewinner*innen und lobende Erwähnungen sind nachfolgend zusammengefasst, zum Großteil vom Zufall verlesen und unvollständig, dennoch eine Beachtung unter den zahlreichen Langfilmbeiträgen wert.




It's Raining Frogs Outside

It’s Raining Frogs Outside ©MalasMalas

Von fliegenden Fröschen und wandelnden Vögeln

Persönliche Auseinandersetzungen mit der eigenen Lebensrealität, Umwelt und sozialer wie gesellschaftlicher Umgebung sind Bestandteil oder sogar Grundgedanke vieler Beiträge der diesjährigen Berlinale Shorts. Selten auf plakative, sondern meist auf künstlerisch eigenwillige und visuell stürmische Art und Weise. So wie beim ersten in Sambal, einer philippinischen Sprache, gezeigten Berlinale-Beitrag IT’S RAINING FROGS OUTSIDE, in der sich die Regisseurin Maria Estela Paiso in surrealen Bildern mit Einsamkeit und innersten Ängsten auseinandersetzt. Mit Paul Thomas Andersons MAGNOLIA eint das philippinische Kurzfilmdebüt abgesehen vom ungewöhnlichen Amphibienregen nichts, Paisos Werk ist eine knapp viertelstündige Collage an bizarren Bildern. Eine groteske, zuweilen alptraumhafte Verarbeitung verschiedenster Lebenserfahrungen, die sich niemals eindeutig erklärt, sich jedoch in verschiedensten Wegen, sei es mit Stop-Motion oder Home-Video-Einblendungen, zu einem Kunstwerk stilisiert.

Bird in the Peninsula

Bird in the Peninsula ©Atsushi Wada

Deutlich ruhiger und sanftmütiger präsentiert sich Atsushi Wadas BIRD IN THE PENINSULA, ein japanisch-französischer Kurzfilm, welcher die Honorable Mention für den Jurypreis der Sektion erhielt. In seinem neuesten Beitrag, 2012 ist er bereits mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet worden, setzt sich Wada nach eigenen Angaben mit Ritualen in Entwicklungsphasen von der Kindheit bis zum erwachsenen Alter auseinander. Mit ähnlicher Ruhe und Naturverbundenheit wie frühe Werke aus dem Studio Ghibli wird eine vollständig animierte Welt eröffnet, in denen kleine Akzente Surreales einstreuen. Keine der Figuren ist physisch genormt, allen wohnt eine geruhsame Natürlichkeit Inne. Die Soundkulisse, welche an das japanische Kino von etwa Kenji Mizoguchi erinnert, trägt über die Wortlosigkeit der 16 Minuten hinweg.




Die Geschichte von zwei Trompeten

Die Geschichte von zwei Trompeten ©Miyu Productions

Der Klang des Existentialismus

Zwei der kürzesten Beiträge, ebenfalls animierte und jeweils aus Japan und Frankreich stammende Produktionen, könnten sich ihn ihrer Erzählweise und Farbgebung kaum deutlicher voneinander unterscheiden. Während Amandine Meyer in dem fünfminütigen DIE GESCHICHTE VON ZWEI TROMPETEN eine märchenhafte Geschichte in farbenfrohen malerischen Bildern erzählt, ist Joung Yumis HOUSE OF EXISTENCE von einer einzigen monochromen Einstellung eines zerfallenden Hauses eingenommen.

In DIE GESCHICHTE VON ZWEI TROMPETEN widmet sich die Regisseurin ihrer eigenen Buchvorlage, einer Ansammlung an Kurzgeschichten mit Kindern und Tieren im Vordergrund, die wie ihr Debütfilm ganz ohne Worte auskommen. In verspielten Bildern eröffnen sich vielfältige Metaphern, die der Regisseurin nach vom Lernen und von Leidenschaft in der Liebe erzählen, gleichzeitig in ihrer märchenhaft leichten Machart und mit der harmonischen musikalischen Untermalung noch viele weitere Assoziationen bei den Zuschauer*innen auslösen können.

House of Existence

House of Existence ©Joung Yumi

HOUSE OF EXISTENCE hingegen steht schon durch die Schlichtheit seiner Schwarzweiß-Bilder im Kontrast zum französischen Kurzfilmbeitrag. Gezeigt wird das Bild eines Hauses, welches nach und nach auseinanderfällt, seine schützenden und stabilisierenden Wände verliert und dessen Möbel nacheinander zu Bruch gehen. Mit seinem einfachen Konzept und der ständigen Offenbarung weiterer Details hinter zusammengefallenen Wänden zieht der Kurzfilm acht Minuten lang in seinen Bann und dringt mit seinen symbolhaften Bilder tief ins Innere eines Menschen ein. Nachdenklich und wehmütig zerfällt nicht nur eine Einrichtung, sondern ein ganzes Leben, nur um im selben Moment den Anschein zu erwecken, immer tiefer zum eigentlichen Kern durchzudringen.




Further And Further Away

Further And Further Away ©Polen Ly

Stille Wasser sind tief

Nicht nur Animationsfilme wissen mit ihren Farben und ihrer Ästhetik zu spielen, auch nachfolgende Realverfilmungen binden diese Stilmittel gekonnt ein. FURTHER AND FURTHER AWAY  von Polen Ly gibt Einblick in das Leben zweier Geschwister, deren letzter Tag in einem ländlichen Dorf Kambodschas bervorsteht und die mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Hauptstadt ziehen wollen. Aus ihren unterschiedlichen Perspektiven und Erwartungen entspinnt sich ein ruhig in Szene gesetzter und wenig experimenteller Kurzfilm, dessen wiederkehrende Farbmuster ebenso viele Deutungsmöglichkeiten bergen wie das Motiv des Wassers. Dokumentarische Bilder und überwiegende Naturgeräusche ergänzen sich zu einem Kurzfilm, in dem Naturverbundenheit, Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit und Zukunftsgedanken greifbar werden.

Starfuckers

Starfuckers ©Field Trip

Regelrecht hinweggefegt wird sämtliche Ruhe und Geborgenheit durch den Kurzfilm STARFUCKERS von Antonio Marziale. Dieser wirft anhand drei namensloser Figuren einen Blick in die Machtdynamiken Hollywoods. Spätestens wenn das anfängliche Machtverhältnis seine kompromisslose Wendung vollzieht, zeigt sich der viertelstündige Kurzfilm als äußerst ausdrucksstark und aufwühlend. Dann wohnen dem Drama mit einem Mal deutliche Thrillerelemente bei, während es zur überstillisierten Auseinandersetzung mit Ausbeutungsverhältnissen kommt und symbolhaft eine ganze Branche gefesselt ist zuzusehen. Intensiv zieht sich der Strudel der Geschehnisse zusammen und wirkt auch etliche Zeit nach Beendigung des Kurzfilms nach.

Ausgerechnet beide Siegerfilme, die mit dem Goldenen Bären beziehungsweise dem Bären in Silber ausgezeichnet worden sind, konnte ich an dieser Stelle noch nicht sehen. Als bester Kurzfilm wurde der von Anastasia Veber inszenierte TRAP ausgezeichnet, und der Preis der Jury ging an SUNDAY MORNING von Bruno Ribeiro.