Langreview English Version Fakten & Credits
Als sich Eva dem einzigen klaren Verbot Gottes wissentlich widersetzte und durch den Verzehr der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis den sogenannten Sündenfall beschließt, ist dies die Geburtsstunde der Erbsünde. Auch wenn in der theologischen Lehre der Bibel nicht davon gesprochen wird, dass jeder Mensch als Sünder geboren wird, sondern stattdessen ausschließlich für seine persönlichen Sünden zur Rechenschaft gezogen wird, findet die Erbsündenlehre viele Jahre später großen Anklang innerhalb der Kirche. Wer in einem Akt der Lust ein Kind zeugt, gibt die Sünden der Menschheit an dieses weiter – und damit auch die Schuld und die Verdammnis! Einzig die Taufe verspricht Erlösung. Keine Sorge, dies soll weder ein analytischer Ausflug in die biblischen Schriften noch ein Fürsprech für den christlichen Glauben werden, sondern dient einzig und alleine der Einordnung der Geschehnisse in Alex Garlands die Synapsen strapazierendem Horror-Märchen MEN. Der von A24 produzierte Elevated Horror (dt. gehobener Horror) bedient sich allerhand biblischer Motive wie eben dem Sündenfall, um daraus eine bitterböse Abrechnung mit patriarchalen Strukturen und der Institution Kirche zu entspinnen.
Darum geht es
Harper (Jessie Buckley) hat gerade eine unschöne Trennung hinter sich, deren ungeahnt schrecklichen Folgen der jungen Frau schwer zu schaffen machen. Ein Urlaub nur für sie alleine im ländlichen England soll ihr neue Kraft und Frieden schenken. Doch bereits kurz nach ihrer Ankunft im großzügigen Landhaus des Eigentümers Geoffrey (Rory Kinnear) stößt sie bei einem gemütlichen Spaziergang im Grünen auf einen splitterfasernackten Mann (ebenfalls: Rory Kinnear), der ihr auch später in ihrem Garten auflauert. Die örtliche Polizei ist zwar schnell zur Stelle und verschafft Harper wieder einen sicheren Rückzugsort, doch auch die anderen männlichen Dorfbewohner (allesamt verkörpert von Rory Kinnear) verhalten sich zunehmend seltsamer, bis sich die Situation letztlich in einen wahren Albtraum verwandelt!
Rezension
In seinem Buch „Die Geschichte von Adam und Eva“ bezeichnet der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Stephan Greenblatt die Geschichte des Sündenfalls als „mächtigsten Mythos der Menschheit” – ich nenne es den Quell der Stigmatisierung der Frau! Der Verzehr der verbotenen Frucht durch Eva, der ersten Frau – und nicht etwa Adam, lässt sich auch ohne Doktortitel einfach als Ursprung der Schuld durch eine Frau deuten. Wenn Alex Garland Harper gleich bei der Ankunft in ihrem Feriendomizil einen saftigen Apfel aus dem viel zu grünen Garten pflücken lässt, ist dies der erste von vielen, mal mehr, mal weniger subtilen Metaphern, die andeuten, was für eine Geschichte er in MEN erzählen möchte. Die Bildsprache findet bis ins allerkleinste Detail Einzug in das entschleunigte Horrordrama und macht es zu der Art Film, die nach der Sichtung auf eine ausgiebige Odyssee durch die digitalen Suchmaschinen einlädt. Das heißt aber noch lange nicht, dass MEN sein Publikum überfordert. Garlands Motive sind stets nachvollziehbar, stellenweise sogar etwas zu sehr on-the-nose und oft wenig subtil in der metaphorischen Bildsprache – und doch wird man bei der anschließenden Recherche auf viele Details stoßen, die während der Erstsichtung unbemerkt geblieben sind.
Über allem steht die toxische Männlichkeit! Wenn Harper nach dem Entrinnen aus ihrer manipulativen Beziehung versucht mit einem damit in Verbindung stehenden traumatisierenden Schicksalsschlag abzuschließen, findet der Bewältigungsprozess und die Auseinandersetzung mit dem Thema Schuld auch visuell auf der Leinwand ihren Platz. Die mysteriösen Vorkommnisse gehen stets mit ihren Interaktionen mit den allesamt von Rory Kinnear verkörperten Figuren einher, dessen Gesicht das Antlitz eines jeden männlichen Bewohners des Dorfes ziert – egal ob erwachsener Mann oder halbstarker Schuljunge. Gerade das Erzeugen eines gezielt provozierten „Uncanny Valley“ Effekts, wenn sich das Gesicht Kinnears völlig unorganisch mit dem Körper eines Knaben vermischt, erzeugt großes Unbehagen und unterstreicht die sorgsam aufgebaute, unwirkliche Stimmung. MEN weiß abseits der alles überschattenden Kritik an patriarchalen Strukturen auch auf der tonalen Ebene eines Horrorfilms mit geschickt eingesetzten Schauermomenten zu überzeugen.
Ein surrealer Albtraum mit WTF-Finale
Der Horror-Aspekt sollte zwischen der ganzen Metaphorik nicht unerwähnt bleiben, ist im direkten Vergleich aber fast schon zweitrangig. Dabei weiß Garland ganz genau, wie man mit subtilen Mitteln eine hypnotische Wirkung erzeugt und die Zuschauer*innen in ein wohliges Schauergewand hüllt. Der sphärische Score wird meist von eindringlichen Chorgesängen begleitet und sorgt dabei für ein atmosphärisches Ambiente. Der Slow-Burner bedarf keiner Jump Scares, um eine bedrückende Stimmung zu erzeugen und verlässt sich voll und ganz auf die Wirkung seiner Bilder und Klänge, ehe sich das Publikum im Finale plötzlich doch noch in einem surrealen Albtraum mit gigantischem WTF-Moment wiederfindet. Wenn sich wie aus dem Nichts waschechter Body-Horror und die komplexe erzählerische Themenvielfalt fusionieren, schließt sich der Kreis und der inhaltliche Subtext manifestiert sich in einem grotesken Szenario, dass man so auch nicht alle Tage zu sehen bekommt. Solange die Strukturen der toxischen Männlichkeit nicht durchbrochen werden, bleibt das patriarchale Wertesystem eines, das von Generation zu Generation weitergetragen wird. Toxische Männer als Produkt toxischer Männer – und allem voran das verzerrte Bild der Schuld der Frau. Eine Botschaft, die mit dem abgefahrenen Finale noch einmal komplett ad absurdum geführt wird. Herrlich!
Fazit
Mann, Mann, Mann, was für ein Mindfuck! In Alex Garlands dritter Regiearbeit bekommt eine traumatisierte Frau die volle Breitseite an toxischer Männlichkeit zu spüren. Da das atmosphärische Horrordrama lange Zeit auf subtilen Grusel statt auf ausufernde Schockmomente setzt, kommt das fulminante WTF-Finale umso überraschender daher und nistet sich auch noch lange Zeit nach dem Abspann in den Köpfen fest. Einen nicht weniger nachhaltigen Effekt dürfte auch die stets präsente Metaphorik hinterlassen, die MEN zu einem ganz besonderen Filmerlebnis macht.
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