Langreview Kurzkritik English Version Fakten + Credits
Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch zählen zu den schrecklichsten Taten, die ein Mensch an einem anderen verüben kann. Umso dramatischer ist es, dass sich seit einigen Jahren ein schrecklicher Trend abzeichnet. Nachdem 2015 ein Tiefstwert von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigen pro 100.000 Einwohner verzeichnet werden konnte, steigen die Fälle unaufhörlich.[1] Einen geringen Einfluss darauf hat allerdings auch das 2017 geänderte Sexualstrafrecht, welches simpel zusammengefasst werden kann mit „Nein heißt Nein“. Dies bezweckt, dass die klare Aussage „Nein“ dem Sexualpartner stets verdeutlicht, dass eine entsprechende Handlung nicht gewünscht und gebilligt ist und eine weitere Annäherung dementsprechend als Nötigung oder Vergewaltigung gewertet werden wird. Die Einfachheit dieser Regelegung bringt jedoch nicht nur positive Aspekte mit sich, denn dadurch ist es tragischerweise auch leichter geworden Falschbeschuldigungen in die Welt zusetzen. Diese können statistisch nur schwer erfasst werden, aber es ist damit zu rechnen, dass die Zahl sich auf etwa 30% der Fälle beschränkt.[2]
Darum geht es
Alexandre ist ein vorbildlicher junger Mann, der viel Mühe in sein Studium steckt und das klassische Leben eines Junggesellen lebt. Als er zu Besuch bei seiner Familie in Paris ist und zusammen mit seinen Freunden eine Party, bei der auch Alkohol und Drogen im Spiel sind, besucht, lernt er spontan Mila kennen. Es scheint sein großes Glück zu sein, dass sie nicht uninteressiert an seinem charmanten Auftritt ist und so kommt es dazu, dass sie sich von der Meute trennen und in einem nahegelegenen Schuppen Sex miteinander haben. Dieser Moment soll ihm jedoch für immer in Erinnerung bleiben, denn schon am nächsten Tag stürmt die Polizei Alexandres Unterkunft und nimmt ihn fest. Der Tatvorwurf: Missbrauch und Vergewaltigung des jungen Mädchens. Die angesehene Familie steht plötzlich unter massivem öffentlichem Druck und es gilt die Frage zu klären, ob es sich um ein einvernehmliches Techtelmechtel handelt oder hier wissentlich eine Straftat begangen wurde.
Rezension
MENSCHLICHE DINGE wird das Publikum spalten und besitzt das Potential umfassende Debatten heraufzubeschwören. Verknüpft werden Familiendrama und Justizdrama, auch wenn auf zweiterem der deutlich größere Fokus lastet. Es handelt sich um eine fiktive Geschichte, die jedoch auf einem gleichnamigen Roman von Karine Tuil beruht, welcher wiederum auf dem „Fall Stanford“ aufbaut. Sowohl das Buch als auch die Originalvorlage legen einen recht eindeutigen Vergewaltigungsfall dar, bei dem eine Tat kaum diskutabel ist. Tuil befasst sich mit der Familie des Täters und schildert die Sichtweise der einzelnen Familienmitglieder und deren Argumentationen, die vor allem darauf abzielen, den Missbrauch zu entkräften und eine Verurteilung zu lindern oder gar aufzuheben.
Regisseur und Drehbuchautor Yvan Attal möchte jedoch mit seiner Verfilmung eine deutlich neutralere Haltung einnehmen und hat zu Gunsten der Geschichte einige Änderungen vorgenommen. Sein Werk wird dominiert von Fragen wie: Wo fängt eine Vergewaltigung an? Was genau ist sexueller Konsens? Wo liegen die Grenzen von Lust? Nun könnte Attal vorgeworfen werden eine Vergewaltigung zu Gunsten einer bourgeoisen, weißen und somit äußerst privilegierten Familie zu verharmlosen und die Schuldfrage bewusst zu verschieben. Stattdessen wirkt es jedoch so, als hätte Attal äußerst bewusst jede einzelne Figur charakterisiert und platziert, um gängige Vorurteile und Klischees zu bedienen und dem Publikum somit frühzeitig eine klare Meinungsbildung zu vereinfachen. Darauf aufbauend hinterfragt die Geschichte immer wieder die Vorstellungen der Zuschauenden, die vom Regisseur in die Lage der Richter*innen gehoben werden, um einerseits die Beweisaufnahme zu verfolgen und andererseits ein abschließendes Urteil zu treffen.
Diskussionswürdig, aber unglaublich wichtig
Durch eine Trennung der Storylines von Opfer und Täter, die zwar durch eine Texttafel erkenntlich gemacht wird, aber in der Umsetzung eher schwer erkennbar ist, wird versucht stets ein ausgeglichenes Bild zu wahren und beiden Parteien ähnliche Aufmerksamkeitsanteile zu bieten. Das gelingt leider nicht immer, denn tatsächlich entsteht ein kaum merklicher Eindruck, dass die Neutralität zu Gunsten des Täters hin und wieder aufgehoben wird. Dieser unparteiische Standpunkt wird bis zur Schlussszene aufrechterhalten und dann mit einer überflüssigen Sequenz aufgehoben. Zudem befasst sich MENSCHLICHE DINGE sehr viel mit den Hintergrundgeschichten der einzelnen Rollen, wodurch ein Drama mit viel zu langen 138 Minuten Spieldauer entsteht. Trotz der ausufernden Laufzeit kommt jedoch keine Langeweile auf, da sich das Filmteam einer Thematik widmet, die aktueller und umstrittener denn je ist und teilweise unschöne Realitäten aufwirft.
Auch wenn es etwas fragwürdig ist, warum ein männlicher Regisseur sich einer solchen Thematik annimmt und dann auch noch seine Ehefrau Charlotte Gainsbourg sowie seinen Sohn Ben Attal in den Hauptrollen platziert, so muss zweifelsohne festgestellt werden, dass die Darbietungen aller Beteiligten vollkommen solide sind und gerade Attals Sohn mit einer vielseitigen Darstellung überraschen kann. Dennoch wirft eben jenes Casting einen unschönen Schatten und bestärkt kritische Perspektiven, die in diesem Film alles andere als eine neutrale Auseinandersetzung erkennen. Gleichzeitig werden jedoch auch spannende Kontraste durch die vielfältige Besetzung aufgebaut, die die Kontroversität der Handlung anheizen und anhand der Figurenzeichnungen mit Sympathien und Antipathien spielen. Insbesondere Machtkämpfe nehmen dabei eine wichtige Rolle ein und zeigen daher ein nachvollziehbares Realitätsbild.
Ist die Justiz unfehlbar?
Für MENSCHLICHE DINGE hat sich der Regisseur ausführlich mit der Thematik aber vor allem auch mit Ermittlungsrichtern, Polizisten und Anwälten auseinandergesetzt und versucht sich ein möglichst breites Bild zu verschaffen. Zudem hat er auch einem Prozess wegen Vergewaltigung beigewohnt. Dies ist deutlich spürbar, denn ein wirklich großer Part des Films spielt ausschließlich im Gerichtssaal. Sehr ausführlich werden Beweisaufnahme, Zeugenvernehmungen und Plädoyers beleuchtet und mittels einer eher starren Kamera der Eindruck erzeugt, als wären wir lediglich Beobachter eines echten Prozesses. Geschickt spielt Yvan Attal zudem immer wieder kurze Szenenausschnitte im 4:3 Format ein, die uns den tatsächlichen Tathergang präsentieren und ein Fortschreiten der Handlung ermöglichen und beschleunigen. Laut eigener Aussage wollte man mit diesen auf 16mm gedrehten Sequenzen eine objektive Realität erzeugen, die im Gegensatz zum kontroversen Prozess steht.
Statt also nur ein „gewöhnliches“ Vergewaltigungsdrama zu entwickeln, bekommen wir einen Film, der ein Gefühl dafür erzeugt, dass ein Rechtssystem auf ganzer Linie zum Scheitern verurteilt ist. Neutrale Richter und Richterinnen sind gezwungen eine Schuldfrage zu klären, die wegen einer „Aussage gegen Aussage“ – Situation eigentlich nicht aufgelöst werden kann. Es handelt sich lediglich um Ermessenssachen, die jedoch massive Auswirkungen auf Täter und Opfer haben können, sofern diese Rollenbilder überhaupt an dieser Stelle angebracht sind. Es bleibt die Frage: Ist es eine Vergewaltigung, wenn das Opfer es sagt oder gibt es objektive Maßstäbe, die über ein emotionales Empfinden hinausgehen? Oder auch: Wann sind Sex und die Wahrnehmung der sexuellen Lust des Partners einfach nur ein „menschliches Ding“ und an welchem Punkt wird eine Grenze überschritten?
Fazit
Auch wenn gerade der Anfangspart etwas zu ausschweifend geworden ist, so zeigt sich uns ein grandioser Film, der zum Grundstoff des deutschen Bildungssystem gehören müsste. Es wird ein äußerst aktueller und allgegenwärtiger Konflikt aufgeworfen, der Angehörige der unterschiedlichsten Meinungsgruppen zu Diskussionen ermutigen und Weltbilder aufeinander krachen lassen wird. Dies wiederum fördert die Auseinandersetzung mit einem Thema, welches oftmals eher der weiblichen Angst zugeschrieben wird, tatsächlich aber ein Geschlechterproblem beschreibt, welches alle Menschen gleich betrifft und sich äußerst unterschiedlich auswirken kann. Zudem steht der Versuch im Raum, ein Verständnis für das jeweils andere Geschlecht zu schaffen. MENSCHLICHE DINGE ist nicht nur mitreißend, sondern auch relevant, kontrovers und mutig und darf deshalb auf keiner Watchlist fehlen.
Wie hat Dir der Film gefallen?
Quellen
[2] Falschbeschuldigungszahlen (Statistik), Kanzlei für Sexualstrafrecht, www.sexualstrafrecht.hamburg, abgerufen am 31.10.2022 *Entfernt wegen unseriöser Quelle
Hinterlasse einen Kommentar